Hannover. Bekannt ist: Phil Collins ist krank, kann schon lange kein Schlagzeug mehr spielen, bestreitet die Konzerte sitzend. Bereits bei seinen Solokonzerten vor Corona war dies so. Aber bei seinem Auftritt im hannoverschen Stadion war er prima bei Stimme, die Bläser knallten, die Backgroundsängerinnen tanzten um den Angeschlagenen herum – so euphorisierend die Musik, so mitleiderregend das Schicksal des Sängers.
Operationen, eine desaströse Ehe, Alkoholsucht – Collins hat das nie verschwiegen. Er hätte sich zurückziehen können. Aber vielleicht sind es die alten Kumpel Mike Rutherford und Tony Banks, die ihn aus dem Loch gezogen haben, um noch einmal das gemeinsame Tourleben zu reaktivieren. Und Hand aufs Herz, Rutherfords Output mit „Mike & The Mechanics“ hat in den letzten Jahren wenig Erquickliches hervorgebracht und Banks Solo-Karriere bewegt sich schon immer unter dem Radar öffentlicher Wahrnehmung.
Am Donnerstagabend heißt es in der ZAG-Arena wohl Abschied nehmen. Und dies vereint die Fans der progressiven 1970er-Jahre mit den Anhängern des poppigen Hitfeuerwerks bis 1991. Sie vereinen stehende Ovationen, wenn Rutherford und Banks, wie Collins 71 Jahre alt, die Bühne betreten. Collins wackelig am Gehstock.
Los geht’s mit „Behind the Lines“, „Duke’s End“ und „Turn It On Again“ aus „Duke“, einem Übergangswerk zwischen Prog und Pop. Anschließend gleich der eher sperrige Überraschungshit „Mama“ über einen Teenager, der seinen Mutterkomplex auf eine Prostituierte projiziert, die ihn ignoriert. Was mag das diabolische Lachen des Seniors im teufelsroten Lichtdesign heute bedeuten?
Zwei Dutzend Stücke in zweieineinhalb Stunden. Wie ist das möglich? Wer das Epische von Monsterstücken wie „Supper’s Ready“ oder „The Musical Box“ sucht, muss zu Steve Hackett, dem legitimen Gralshüter des Frühwerks gehen. Denn das Album „… And Then There Were Three …“ war Programm, als nach Peter Gabriel auch Gitarrist Hackett die Band verließ. „Follow You Follow Me“, an diesem Abend Teil eines kurzen Akustiksets, zu dem auch „The Lamb Lies Down on Broadway“ gehört, war der Startschuss zu einer Reihe kompakter Hitsingles. Daryl Stuermer, der sich mit Rutherford Gitarre und Bass teilt, hier mit einer swingenden Akustikgitarre, die „That’s All“ zum Vorteil gerät. Sonst zeigt sich der langjähriger Tourbegleiter wie gewohnt als zupackender E-Gitarrist, was zu „Invisible Touch“ oder „No Son of Mine“ passt, die bei MTV, VIVA und im Radio totgedudelt wurden. „I Can’t Dance“ wirkt wie ein bitterer Kommentar zu Collins‘ Situation. Das gesellschaftskritische „Land of Confusion“ erhält eine beklemmende neue Aktualität: Collins verweist auf Putin, während Maskenmänner mit Bowler-Hüten als Kommentar zur Pandemie über die riesige Projektionsfläche marschieren. So schnell ändern sich die Topthemen.
Aber in unmittelbarer Nachbarschaft zu „The Cinema Show“, „Afterglow“ oder „Firth of Fifth“ wird gewiss, auf welchem kompositorischen Niveau sich Genesis einmal befanden. Auch nach Gabriels Weggang. Man höre noch einmal das Album „The Trick of the Tail“, was überraschend gänzlich außen vor bleibt und Collins gesanglich besser gelegen hätte als ein Stück wie „Dancing With the Moonlit Knight“. Ob allerdings Gabriel selbst seine wahnwitzigen Sprünge ins Falsett noch hinbekäme, darf bezweifelt werden. So wird die ursprünglich über acht Minuten lange Perle drastisch eingekürzt – wie gern hätte man sich in das verschollene Wunderland zurückgeträumt, in der die Queen of Maybe herrscht.
Vier Songs immerhin von dem vielleicht besten Genesis-Album „Selling England By the Pound“ (damals ein Wahlkampfslogan der Labour-Partei) werden eingebaut, die in Rutherfords und Stuermers eher rustikaler Saitenarbeit jedoch zu versanden drohen. Wenn Rutherford zur Doppelhalsgitarre greift, hat dies zwar einen gewissen Showeffekt, aber genauso wenig wie Stuermer gelingt es ihm, einen emotionalen Zugang zu finden, die Töne fliegen zu lassen, um sich im Zusammenspiel mit Banks Keyboardbombast aus ihrer irdischen Gebundenheit zu lösen.
„I Know What I Like (In Your Wardrobe)“, der einzige Single-Charterfolg der Gabriel-Ära, wird durch Mitsingaktionen für das Publikum aufgebrochen, das hat der Song nicht verdient. Und in einigen Phasen der Show könnte sich sogar Langeweile breitmachen, würden einen die fantasievollen Videos nicht in ihren Bann ziehen. Allerlei bunte Formen fliegen durch die Gegend, Tour-Armbänder und Videocassetten mit Mitschnitten von längst vergangenen Konzerten ergänzt durch alte Fotos schieben sich ins Bild, ein nostalgischer Rückblick, der auch Collins als agile Rampensau zeigt, die er früher so selbstironisch zu geben wusste. Heute, vom Drehstuhl aus, ist der immer noch der Sympathieträger und Mittelpunkt, moderiert die Show unterhaltsam, wenngleich die gemeinsame Kontaktaufnahme mit dem Publikum zu der „other world“ doch ein wenig albern wirkt. Collins Aktionsradius beschränkt sich auf ein wenig Luftschlagzeug. Immerhin, sein Drummer-Talent hat er seinem Sohn Nic vererbt, der wie schon bei der Solotour seines Vaters beweist, dass er den Laden zusammenhalten kann. Vielleicht ein kleiner Trost.
Über der Bühne hängen fünf Spotlightträger, die wie riesige Legosteine aussehen und sich drehen, absenken und zusammenschieben lassen. Die Band darunter wird komplettiert durch zwei Backgroundsänger. Während Rutherford, Banks und Stuermer Sakkos übergeworfen haben, trägt Collins eine Trainingsjacke, ein Outfit, das sich bestenfalls als uneitel bewerten lässt. „The Carpet Crawlers“ ist dann der würdige Schlusspunkt, bevor das Genesis-Triumvirat zum wiederholten Mal stehende Ovationen erhält – verdient für eine Energieleistung, aber vor allem für das Lebenswerk.
„There’s nothing you can do when you’re the next in line, you’ve got to go, Domino“ hat Collins zuvor in dem der Tour den Titel gebenden Stück gesungen: „The Last Domino?“ Collins als Domino? Der letzte Dominostein einer langen Karriere? In einer kurzen Pressekonferenz vor Konzertbeginn hatte der Genesis-Manager John Giddings betont, die Tour sei der definitive Schlusspunkt. Aber was dann das Fragezeichen bedeute, wird er gefragt. „Man kann nie wissen“, sagt er und lächelt sybillinisch.
Freitagabend spielen Genesis ein zweites Mal in der ZAG-Arena auf dem hannoverschen Messegelände. Wie gestern vor 9800 Zuschauern. Damit ist die komplett bestuhlte Halle erneut ausverkauft.