HERRENHAUSEN. Es fühlt sich an wie das Ende. Mit schwindendem Augenlicht lassen bei Samuel Pepys auch die Lebensgeister nach. Man spürt tiefe Trauer und Resignation, wenn er die letzten Sätze in das Tagebuch einträgt, das zu führen ihm so viel bedeutet hat.
Fortan, so schreibt er zum letzten Mal mit eigener Hand, werde er die Schilderung seiner Tagesabläufe seinen Untergebenen im Flottenamt diktieren – zumindest die Teile davon, die die Öffentlichkeit nicht zu scheuen brauchen. Dann schwingt Pepys sich zu einem letzten Seufzer auf: „Was meine Schreiber und alle Welt wissen dürfen: Wen interessiert das schon?“
Fast 30 Jahre sollten nach diesem letzten Eintrag vergehen, den nun auch der Schauspieler Gustav Peter Wöhler ans Ende seiner musikalischen Lesung im Gartentheater Herrenhausen stellte, bis Samuel Pepys, längst vollständig erblindet, 1703 in London starb. Über diese letzten Jahrzehnte weiß man bei ihm heute so viel, wie man über die meisten seiner Zeitgenossen weiß: gar nichts. Umso größer ist der Schatz der Aufzeichnungen, von denen er so mühsam Abschied genommen hat.
Pepys hat sein Leben akribisch, humorvoll und mit einer Offenheit protokolliert, die nicht nur für die Sechzigerjahre des 17. Jahrhunderts ohne Beispiel ist. Nicht ohne Grund ist Wöhlers Programm, das aus diesem Schatz schöpft, „eine Daily Soap aus dem Barock“ untertitelt: Pepys schreibt am liebsten über die Dinge, über die man nicht spricht. Er schildert Blähungen und Blasensteine, Eheprobleme und erotische Eskapaden. Und wenn es doch einmal um Finanzkrisen und Kriege geht, nimmt dieser wunderbarste aller Beamten, der seinen Dienst im Büro des Flottenamtes seiner Majestät Charles II. mit durchaus vorbildlichen Eifer versehen hat, stets eine skurrile Privatperspektive ein. Ihr zu Lauschen ist bis heute ein großes Vergnügen.
Wöhler trägt mit so unaufdringlicher Raffinesse aus den Aufzeichnungen vor, dass man Pepys durch die pestverseuchten Straßen Londons folgt, ohne sich daran zu stoßen, wenn der sich eher für seinen neuen Gehrock als für die versiegelten Häuser der Kranken interessiert. Man amüsiert sich über Pepys Ansichten zum damals moderne Theater: „Romeo und Julia“, das jüngste Stück „dieses Shakespeares“ werde sicher bald wieder vergessen sein, befindet er – schließlich gebe es bei der Aufführung nicht einmal Flöten. Und man gerät doch kaum in Versuchung, sich über den Autor lustig zu machen: Man spürt in jedem Wort, dass der nicht nur sich selbst und seinen Beruf sehr liebt, sondern auch das Theater und die Musik, die Menschen und das Leben.
In Herrenhausen spielen die Sopranistin Susanne Ellen Kirchesch und Wolfgang Katschners Lautten Compagney Berlin die Musik. Auch wenn die akustischen und meteorologischen Bedingungen eines Freilufttheaters bei empfindlichen Instrumenten wie Stimmbändern, Darmsaiten und Nachbauten barocker Flöten nicht unerhebliche Spuren hinterlassen, kann man nur staunen, welche präzisen musikalischen Entsprechungen zu Pepys absonderlichen Themen die Musiker aus der Wunderkammer der Barockmusik auftun. So wild, so frei, so fabulierend tönt es seither nur sehr selten.
Gartentheater in Herrenhausen: Am heutigen Samstag spielt die Lautten Compagney Berlin ab 20 Uhr das Programm „Swinging Purcell“.
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