Mit seiner Forderung,über eine "Leitkultur" in Deutschland zu diskutieren, hat Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert einer alten Debatte spürbar neues Leben eingehaucht. Im Gespräch mit Chefredakteur Frank Werner und Dr. Stefan Rothe in unseren Redaktionsräumen in Bückeburg begründet Lammert seine Forderung und nimmt Stellung zur steigenden Zahl rechtsextremer Straftaten, der Rolle des Bundestags in Zeiten der Großen Koalition und den Chancen der Opposition.
Wir sind Papst, drücken uns die Daumen beim Eurovisionswettbewerb, feiern uns als Exportweltmeister und demnächst als Fußball-Nation. Beispiele für gelebten Alltagspatriotismus. Welches Problem im nationalen Selbstverständnis der Deutschen sehen Sie?
Die von Ihnen genannten Beispiele beschreiben höchst unterschiedliche Vorgänge mit unterschiedlichen Beteiligten. Unabhängig von den Beispielen gilt: Es gibt in jeder Gesellschaft, auch in der deutschen, ein vitales Bedürfnis nach Identität und Identifikation. Und ich wüsste keinen vernünftigen Grund, warum man dem nicht Raum geben dürfte.
Sie fordern,über "Leitkultur" zu debattieren. Ein provozierender Begriff - und ein flüchtiger, wenn man versucht, ihn zu definieren. Welcher Werte- und Tugendkanon verbirgt sich dahinter?
Im Grundsatz geht es um die Notwendigkeit jeder Gesellschaft, sichüber das Mindestmaß an Gemeinsamkeiten zu verständigen, ohne die sie auch keine Vielfalt erträgt. Die Voraussetzung für die Liberalität einer Gesellschaft ist Konsens. Ein Mindestmaß an von allen akzeptierten übereinstimmenden Prinzipien und sich darauf gründenden Regeln. Unabhängig von der Terminologie braucht jede Gesellschaft eine Verlebendigung der kulturellen Grundlagen, auf denen sie beruht.
Es herrscht Einigkeit darüber, dass die deutsche Sprache zu einer solchen Konsenskultur gehört. Aber darüber hinaus wird es nebelig: Welche Elemente noch?
Auch die Einsicht, dass die deutsche Sprache unverzichtbare Leitkultur in dieser Gesellschaft ist, gehört zu den glücklichen neuen Einsichten, die sich in diesem Land entwickelt haben. Inzwischen hat sich die ja einigermaßen banale Einsicht durchgesetzt, dass eine gemeinsame Sprache das Mindestmaß an Voraussetzung für wechselseitige Verständigung ist. Wir haben ein über viele Jahrzehnte, vielleicht über Jahrhunderte gewachsenes Verständnis über Mindestregeln des Umgangs untereinander, die sich in der Verfassung und in Gesetzen niedergeschlagen haben. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Die Vorstellung der Gleichberechtigung von Mann und Frau ist Ausdruck einer historischen Erfahrung und kulturellen Überzeugung. Und sie kollidiert mitten in unserer Gesellschaft mit der Vorstellung der Dominanz des Mannes, die auch kulturell geprägt ist. Die Diskussion über Leitkultur ist auch deswegen notwendig, weil sich keine Gesellschaft vor der Klärung der Frage drücken kann, waseigentlich gilt, wenn jeweils kulturell begründete Überzeugungen sich gegenseitig im Wege stehen.
Losgelöst von diesem Beispiel: Ist diese Frage in einer Gesellschaft, die immer ausdifferenzierter, komplexer und globalisierter wird, überhaupt noch zu klären? Verlangt die Suche nach nationalen Gemeinsamkeiten nicht, die Uhr zurückzudrehen?
Je komplexer eine Gesellschaft wird, desto dringender ist die Klärung dieser Frage. Nur dann, wenn es wenige konkurrierende Orientierungen gibt, mag diese Klärung verzichtbar erscheinen. Kurt Biedenkopf hat einmal gesagt, eine Gesellschaft, die multikulturell geprägt ist und die gleichzeitig ihre Identität nicht verlieren will, braucht ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit, braucht einen roten Faden - eben eine Leitkultur.
...aber inhaltlich gefüllt haben Sie den Begriff immer noch nicht. Falls es, ähnlich dem Sprachtest, bald eine Einbürgerungsklausur zu kultureller Akzeptanz geben sollte, was würde abgefragt?
Ich halte die verbindliche Formulierung eines Kanons weder für realistisch noch für notwendig. Ich glaube auch, dass die Diskussion, die wir in den letzten Monaten über Fragebögen oder Tests hatten, eher ein Ausdruck von Verlegenheit ist, die sich im Umgang mit diesem Thema herausgebildet hat, als funktionstüchtige Mechanismen liefert, mit dem Thema umzugehen. Nur, wir haben viel zu lange die umgekehrte Situation gehabt. Wir haben all' das, was es an kulturellen Orientierungen in unserer Gesellschaft nebeneinander oder überhaupt nicht mehr gegeben hat, auf sich beruhen lassen in der naiven Vorstellung, das wachse irgendwie schon zusammen. Wir stellen jetzt fest, dass das nicht nur nicht in einer ganz selbstverständlichen Weise zusammenwächst, sondern dass es Konflikte schafft. Und deswegen brauchen wir eine Klärung - nicht der Rechtslage, denn da mangelt es an Klarheit nicht. Wenn wir mit Ehrenmorden konfrontiert werden, wird niemand ernsthaft sagen, das sei deswegen ein Problem, weil die deutsche Rechtslage nicht eindeutig ist. Was hier kollidiert, sind unterschiedliche kulturelle Vorstellungen. Wir müssen die kulturellen Zusammenhänge aufarbeiten, um die Überzeugungen, die hinter den gesetzlichen Regelungen stehen, freizulegen. Dass wir uns hier in einer bereits gründlich veränderten Diskussionslage befinden, kann man nicht zuletzt an der Sprachenfrage erkennen. Wir haben inzwischen einenfröhlichen Überbietungswettbewerb in den Anforderungen des Nachweises von Sprachkenntnissen, an dem sich auch Leute beteiligen, die solche Vorgaben noch vor zwei oder drei Jahren für eine völlig unzumutbare autoritäre Setzung gehalten haben. Der Groschen scheint gefallen.
Man könnte argumentieren: Die Definitionsfrage ist gelöst. Der Begriff "Verfassungspatriotismus" zielt auf die Grundwerte des Grundgesetzes. Er hat überdies den Vorteil eines rationalen Zugangs, frei von Gefühlsduselei. Warum reicht Ihnen das nicht?
Ich wiederhole: Wir haben doch keinen Mangel an Klarheit in unserer Verfassung. Aber gerade die Harmlosigkeit des Begriffs Verfassungspatriotismus verstellt offenkundig die unangenehme Notwendigkeit der Klärung von Sachverhalten. Ich habe überhaupt nichts gegen den Begriff Verfassungspatriotismus. Er ist mir wie Ihnen unter den Gesichtspunkten der emotionalen Wirkung sympathischer als andere. Aber er vermittelt den Eindruck, es sei bequemer zu haben, was wir an Klärung brauchen, als es tatsächlich ist.
Steckt nicht hinter jeder Vision von Homogenität, und der Begriff "Leitkultur" suggeriert eine solche Vision, die Angst vor dem Anderen?
Den Begriff Homogenität haben Sie bei mir noch nie gehört oder gelesen. Ich bin ganz im Gegenteil ein leidenschaftlicher Anhänger einer liberalen, durch Vielfalt geprägten Gesellschaft, und weise regelmäßig darauf hin, dass unsere Gesellschaft ganz sicher eine multikulturelle ist im Sinne eines empirischen Befundes, dass hier viele Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Orientierungen nebeneinander leben. Wenn man das will, und ich will es, dann muss man klären, was gilt, wenn Orientierungen in Konflikt geraten. Nicht mehr und nicht weniger.
Aber der Begriff, so deutungsoffen wie er ist, kann bei Bedarf anders ausgelegt werden. Haben Sie keine Angst, dass die Diskussion in eine Schieflage gerät und Wasser auf die Mühlen von Rechtsextremisten leitet?
Im Gegenteil. Extremisten, auf der rechten wie auf der linken Seite, sind an Vielfalt nicht interessiert, sondern an Uniformität. Sie haben die naive Vorstellung, das eigene bornierte Weltbild sei das einzig mögliche in einer Gesellschaft. Wenn man das nicht will, muss man die Voraussetzung für Vielfalt schaffen - ein Mindestmaß an Konsens.
Wie bewerten Sie die
jüngsten Schlagzeilen und Statistiken zur rechtsextremen Gewalt? Eine weitere Nachkriegskonjunktur dieses Phänomens oder besteht noch größerer Anlass zur Sorge?
Wir haben angesichts unserer Geschichte gute Gründe, selbst bei weniger Straftaten als vorhanden, jedes Anzeichen von Rechtsextremismus mit besonderer Sorgfalt zu registrieren und besonders konsequent dagegen vorzugehen. Und wir dürfen uns auch nicht darüber beklagen, dass wir mehr als andere Länder unter der aufmerksamen Beobachtung der Weltöffentlichkeit stehen.
Braucht das Land unter diesen Vorzeichen nicht eher eine Debatteüber Toleranz als über "Leitkultur"?
Wie kommen Sie auf die Idee, dass das zwei unterschiedliche Dinge wären? Könnte es nicht sein, dass zum harten Kern dessen, was unter Klärung kultureller Mindestvoraussetzungen zu debattieren ist, Toleranz gehört?
Ein anderes Thema: Seit Herbst regiert die Große Koalition. Müssen wir nicht befürchten, dass angesichts einer ohnehin strukturell starken Exekutive in diesen Zeiten die Legislative, der Bundestag, bedenklich schwach wird?
Das muss man nicht befürchten. In den 60er Jahren war die Große Koalition viel größer und die Opposition viel kleiner als heute. Und wir haben die damaligen drei Jahre der Großen Koalition ohne ernsthaft negative Folgen für die Demokratie überstanden. Ich kann nicht erkennen, warum das diesmal anders sein sollte.Im Gegensatz zur damaligen Situation steht der jetzigen Großen Koalition nicht eine einsame schwache Opposition gegenüber, sondern gleich drei Oppositionsfraktionen, die sich auch untereinander im Wettbewerb befinden und nachweisen wollen, wer die kreativste Opposition ist, was Lebendigkeit in die parlamentarischen Auseinandersetzungen bringt.
Es gibt immer dichtere
Mikrophonwälder, immer mehr Polit-Talkshows. Bedeuten diese medialen Bühnen - und der Eifer, mit dem sie von Politikern genutzt werden - eine Schwächung des Parlaments?
Nein. Ich sehe eine solche Schwächung nicht. Der Unterhaltungswert von Talk-Shows mag größer sein, aber in keiner dieser Sendungen wird je etwas entschieden. Parlamentsdebatten haben einen vergleichsweise geringen Unterhaltungswert, aber am Ende wird entscheiden. Das ist der Unterschied.
Ohne Ihnen zu nahe zu treten: Herr Beckmann oder Herr Kerner sind wahrscheinlich bekannter als Sie...
Wir beobachten seit geraumer Zeit einen nicht unbedingtüberzeugenden Trend zur Boulevardisierung. Ich kann aber nicht empfehlen, dass sich das Parlament in diese völlig blödsinnige Konkurrenz begibt.
Wie bewerten Sie die Debattenkultur im Bundestag? Es gibt Beobachter, die wünschen sich einen Wehner oder Strauß zurück...
Ich gehöre ja zu den Dinosauriern des deutschen Parlamentarismus. Deswegen sehe ich vielleicht mit etwas größerer Gelassenheit die Konjunkturen in der Einschätzung großer Figuren des Parlaments. Alle zehn Jahre wird die Besetzung des Parlaments zehn Jahre zuvor als vorbildlich dargestellt. Das hat auch etwas mit begrenztem Erinnerungsvermögen zu tun...
Sie haben sich besorgtüber den Ansehensverlust von Politikern geäußert. Wo liegen die Gründe dafür, und wie lässt sich dem begegnen?
Es ist nachvollziehbar, dass in Zeiten, in denen weniger Zuwächse zu verteilen als Konsolidierungen durchzusetzen sind, in denen viele Menschen den Eindruck haben, dass sich ihre Lebensverhältnisse nicht stürmisch aufwärts entwickeln, sondern an manchen Stellen ein Schritt zurückgegangen werden muss, dass in diesen Zeiten denjenigen keine besondere Begeisterung entgegengebracht wird, die mit solchen Entscheidungen befasst und mit ihrer Bewältigung beauftragt sind. Deshalb ist es umso notwendiger, in der Kommunikation mit den Wählerinnen und Wählern die Lage so nüchtern zu schildern, wie sie ist, und nicht Erwartungen zu erzeugen, die nicht erfüllt werden können.