HAMELN. Geht es um die politische Entwicklung in der Türkei, erhitzen sich die Gemüter. Viele können die Begeisterung vieler Deutschtürken für den türkischen Präsidenten Erdogan nicht nachvollziehen. Doch die haben ihre Gründe. Und das Gefühl, dass die Türkei und damit auch sie in ein negatives Licht gestellt werden.
Metin Yilmaz (44) ist ein waschechter Hamelenser. Geboren und aufgewachsen in der Rattenfängerstadt, packten er und seine Geschwister immer eine Postkarte mit Hameln-Motiv in den Koffer, wenn es mit den Eltern in den Türkei-Urlaub ging. Denn früher oder später haben sie, die Kinder, immer Heimweh bekommen. Dann holten sie die Postkarte hervor und sehnten sich nach ihrem Zuhause: nach Hameln, Deutschland.
Trotzdem lebt Yilmaz, der die deutsche Staatsbürgerschaft hat, in zwei Welten, wie er sagt, in der deutschen und der türkischen. In der Türkei muss er erklären, dass Deutschland nicht voller Nazis sei, und in Deutschland muss er sich für Erdogan rechtfertigen. Aber das Leben in zwei Welten sei nicht nur schlecht. „Dadurch sind wir in der Lage, beide Seiten der Medaille zu betrachten“, sagt der Taxiunternehmer. In der Diskussion über die politische Entwicklung in der Türkei hätten die Deutschtürken damit einen Vorteil gegenüber den Deutschen. „Aber manche Deutsche wollen uns sagen, wie die Türkei wirklich ist – da schwingt auch eine gewisse Arroganz mit“, findet Yilmaz.
Der 44-Jährige war mal in der SPD. Bis Genosse Thilo Sarrazin in seinem Buch „Ausländer als genetisch minderwertig bezeichnete“. Ein Parteiausschluss erfolgte nicht, womit, so Yilmaz, gefördert worden sei, solche Positionen gesellschaftsfähig zu machen. Yilmaz trat aus der SPD aus.
Wenn es um die Türkei geht, steht Yilmaz hinter der Politik der AKP, empfindet aber zum Beispiel die Nazi-Vergleiche des türkischen Staatspräsidenten dennoch als „total überzogen“. Doch in der AKP sieht er die politische Mitte der Türkei. Die verbesserte Infrastruktur, das Gesundheitssystem, die sozialen Leistungen – alles Errungenschaften, die auf die Politik Erdogans zurückzuführen seien. Davon sei er als deutscher Staatsbürger zwar nicht direkt, aber indirekt betroffen. Denn wenn er heute von Istanbul aus in die Heimatstadt seiner Eltern, nach Erzurum, fahre, dann durchweg auf vierspurigen Straßen. In zwölf Stunden, anstatt wie früher in anderthalb Tagen. Außerdem müsse er sich keine Sorgen mehr um die gesundheitliche Versorgung seiner Verwandten in der Türkei machen. Aspekte, welche die Deutschen gern übersähen. „Die Türkei wird von den Deutschen erdoganisiert“, meint der Hamelner. Zumindest finde sich von seinen Errungenschaften herzlich wenig in den deutschen Medien, die damit nicht gerade zur Deeskalation der angespannten Situation beitragen würden, findet er. Im Gegenteil: In der deutschen Berichterstattung werde unterstellt, dass jede Festnahme seit dem Putschversuch 2016 unrechtmäßig sei. Zumal man zwischen Festnahme und Festsetzung, wie etwa Hausrarrest, unterscheiden müsse. „Das sind Mechanismen, die nach einem Putsch greifen“, sagt er. „Das wäre in Deutschland nicht anders.“ Dass in der Türkei die Todesstrafe eingeführt wird, glaubt Yilmaz nicht. „Ich glaube, das ist nur ein trotziges Sticheln.“
Und warum wird Kritik an der türkischen Politik häufig als persönlicher Angriff aufgefasst, wie es sich etwa in Internetdiskussionen zeigt? „Weil die Leute einfach genervt sind, auf Erdogan reduziert zu werden“, sagt Yilmaz. Diskutiert werde unter Deutschtürken und unter seinen Verwandten in der Türkei auch. „Aber nicht so hitzig wie in Deutschland.“
Takva Akdogan (44), geboren und aufgewachsen in Hameln, glaubt, dass das Interesse an und auch die Identifikation vieler Deutschtürken mit der Türkei durchaus mit der Person Erdogan zu tun hat. „Erdogan ist der erste Politiker der Türkei, der sich für die Türken im Ausland interessiert“, sagt sie. Er setze sich für die Türken in Deutschland ein. „Wir haben sonst nie irgendeinen Rückhalt gehabt“, führt sie aus. Einen Rückhalt, den ihnen die deutsche Gesellschaft, die deutsche Politik zumindest nie so vermittelt habe. „Wir waren hier wie gestrandet, ausgeliefert, wenn zum Beispiel mit Abschiebung gedroht wurde.“
Das Wort Integration könne sie schon nicht mehr hören. „Wir sollen uns anpassen, ja, aber wie weit? Wo ist die Grenze?“, fragt die Krankenschwester. „Wann sind wir integriert? Wenn wir Weihnachten feiern und Schweinefleisch essen?“ Integration klinge in den Ohren der Muslimin oft, wie „Verhalte dich so, wie wir es wollen!“ In der Türkei verlange doch auch niemand von den Christen, kein Schweinefleisch zu essen. „Reicht es nicht, dass wir die Sprache sprechen, hier leben und die Gesetze befolgen?“
Das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, werde der deutschen Staatsbürgerin immer wieder vermittelt. Als sie nach der Trennung von ihrem deutschen Mann wieder ihren türkischen Mädchenname annehmen wollte, sei sie von der Beamtin tatsächlich gefragt worden, ob sie das ihren Kindern wirklich antun wolle. Sie hätten sonst doch viele Nachteile …
Heute hat Akdogan das Gefühl für Erdogans Politik gewissermaßen in Sippenhaft genommen zu werden. „Ich lasse normalerweise ja nicht viel an mich ran“, sagt sie, „aber auch ich spüre das. Ganz oft heißt es: ,Euer Erdogan!‘“ Die Medienberichte täten ihr übriges: „Man wird in so eine negative Ecke gestellt“, findet sie. Früher sei es so gewesen, dass die Deutschtürken weder in Deutschland noch in der Türkei anerkannt wurden. „Jetzt fühlen wir uns von der Türkei angenommen und willkommen“, sagt Akdogan. Dabei werde Erdogan und seine Politik in der Familie sowie im Freundeskreis durchaus diskutiert. „Ich befürworte ja auch viel von Erdogan, wenn auch nicht alles, doch da habe ich mir von meiner Cousine in der Türkei sagen lassen müssen: Du lebst ja nicht hier!“
Seit dem Referendum über die Verfassungsänderung im April sei die Türkei gespalten, was sich ja auch an dem knappen Abstimmungsergebnis ablesen lasse. Sie selbst habe bislang jedoch noch nicht nachvollziehen können, „weshalb es den Menschen wegen Erdogan jetzt so schlecht gehen soll“.
Mehmet Kubilay (38) ist in Hameln zur Welt gekommen und aufgewachsen. Dennoch ist ihm der, wie er betont, „demokratisch gewählte“ türkische Präsident Erdogan schon von Kindesbeinen an vertraut. Noch vor dessen Zeit als Oberbürgermeister von Istanbul war Erdogan schon in Deutschland politisch aktiv. „Ein Verwandter hat mich damals zu einer Veranstaltung in der Sertürner-Realschule mitgenommen, wo Erdogan eine Rede gehalten hat“, erzählt Kubilay. „Erdogan hat uns schon damals ernstgenommen.“ Wenn es heute um Erdogan und die Türkei geht, dann beschäftige Kubilay und viele seiner deutschtürkischen, aber auch deutschen Freunde vor allem eine Frage: „Wieso wird hier so sehr versucht, die Türkei schlecht zu machen?“ Schließlich hätten Erdogan und die AKP wirtschaftlich und sozial viel erreicht in der Türkei. Kubilays Cousins in der Türkei etwa erhielten inzwischen ein sechsfach höheres Gehalt als früher. „Ist es die Erinnerung an das Osmanische Reich, das mal vor Wien stand? Ist es die Angst vor dem Islam?“, fragt sich der gelernte Industriemechaniker und verweist auf die jahrzehntealte freundschaftliche Geschichte zwischen Deutschland und der Türkei. Aber darüber spreche ja niemand. Stattdessen würden in der Berichterstattung über Festnahmen in der Türkei Hintergrundinformationen weggelassen oder Falschmeldungen in die Welt gesetzt: etwa dass der Tourismus in der Türkei zusammengebrochen sei. „Oder will der Westen einfach nicht, dass die Türkei immer stärker wird?“, fragt sich der 38-Jährige.
Mehmet Kubilay will vor allem eins: „Hier geht es uns allen gut, und das wünsche ich mir auch für meine Verwandten in der Türkei.“ Dies sei auch der Grund, weshalb ihn – als deutscher Staatsbürger – die Politik in der Türkei so interessiere. Ganz abgesehen davon, dass er sich auch der Heimatstadt seiner Eltern in der Türkei verbunden fühlt. Aber ja, sagt er, er identifiziere sich nicht nur mit Deutschland, sondern ein Stück weit auch mit der Türkei. „Erdogan vermittelt uns ein Gefühl, das man hier vermisst hat.“ Das Gefühl, voll und ganz anerkannt als deutscher Staatsbürger zu sein.
Seit dem Putschversuch 2016 werde in Deutschland von der Türkei „der Eindruck einer Diktatur vermittelt“, findet Kubilay. Dabei werde außer Acht gelassen, dass die Türkei bis zur AKP-Regierung politisch jahrzehntelang instabil war. „Es geht jetzt darum, die Parallelgesellschaft von Fethullah Gülen auszuhebeln, das Land zu ,säubern‘, damit Putsche, wie es sie früher gab, eben nicht mehr vorkommen“, meint er. Und was wäre, wenn in diesem Zuge auch Unschuldige verhaftet würden? „Das würde ich nicht befürworten.“
Bislang spiele sich das „Türkei-Bashing“ auf politischer Ebene ab, sagt er. Zwischenmenschlich habe er noch keine negativen Erfahrungen gemacht. „Ich identifiziere mich nach wie vor zu 100 Prozent mit Deutschland“, sagt Kubilay, der sich als Deutschtürke niemals benachteiligt gefühlt habe. Aber „einen kleinen Kratzer“ habe sein Verhältnis zu seinem Heimatland im Zuge der angespannten politischen Situation zwischen Deutschland und der Türkei abbekommen – ganz zu schweigen von der andauernden gefühlten Gleichsetzung von Islam und Terror. „Es ist eine Verunsicherung“, sagt er. „Werde ich hier als Deutschtürke in 20 Jahren auch noch willkommen sein?“
Termin: Wer Interesse hat, sich über dieses Thema in zwangloser Runde auszutauschen, ist herzlich eingeladen am Montag, 21. August, in der Zeit zwischen 18 und 19 Uhr in das Café der Sumpfblume kommen. Chefredakteurin Julia Niemeyer und Redakteur Philipp Killmann werden als Gesprächspartner ebenfalls vor Ort sein.