HAMELN. So wie in alten Gemäuern Geschichten stecken, so sind auch in Straßennamen Erzählungen verborgen. In der Reihe „Straßen-Geschichten – woher kommen Straßennamen?“ spürt die Dewezet-Redaktion diesen Geschichten in einer losen Reihe nach. Heute geht es um die Hugenottenstraße.
Erst seit einigen Wochen befindet sich an den Schildern, die die Hugenottenstraße als solche ausweisen, ein zusätzliches Schildchen, wie es vereinzelt auch bei anderen Straßenschildern der Fall ist. In aller Kürze steht da, was es mit dem Straßennamen auf sich hat. Zur in der Südstadt befindlichen Hugenottenstraße heißt es nun: „Erinnert an französisch-reformierte Glaubensflüchtlinge (v. 1690-1854) in Hameln“. Diese Flüchtlinge waren Hugenotten. Die Kirche ihrer Nachfolger befindet sich ebenda: an der Hugenottenstraße in Form der evangelisch-reformierte Kirche.
Die ev.-ref. Gemeinde steht in der Tradition der Hugenotten-Gemeinde
Ein Gemeindemitglied weiß Näheres zu berichten. „Als unsere Kirche gebaut und 1906 eingeweiht wurde, war die heutige Hugenottenstraße noch Teil der Hermannstraße“, sagt Elke Herrenbrück, Historikerin und Lehrerin im Ruhestand. „Im Jahr 1911 wurde dieser Straßenabschnitt auf Drängen des ersten hauptamtlichen Pastors unserer Gemeinde, Reinhard Smidt, umbenannt in Hugenottenstraße.“ Ein naheliegender Schritt. Schließlich sei die neue reformierte Gemeinde in Hameln wenige Jahre zuvor, 1901, als „Fortsetzung der früheren Hugenottengemeinde“ gegründet worden. Aber wer waren die Hugenotten überhaupt?
„Hugenotten werden seit dem 16. Jahrhundert in Frankreich die Protestanten genannt, die der Reformation Calvins folgen“, erläutert Herrenbrück. Der Begriff Hugenotten sei aber umstritten. Eventuell handele es sich um eine Verballhornung der französischen Bezeichnung für Eidgenossen („eygenots“).
In Frankreich waren die Hugenotten Verfolgung, Folter und Gefangenschaft ausgesetzt
Spätestens ab 1685 verließen die Hugenotten ihre französische Heimat, um sich der Rekatholisierung zu entziehen, führt Herrenbrück aus. Doch weil die Hugenotten viele wichtige Fachkräfte für das merkantilistische Wirtschaftssystem stellten, habe Frankreich alles darangesetzt, sie an der Flucht zu hindern. Verfolgung, Folter, Gefangenschaft und Todesdrohungen seien die Folge gewesen.
Mit der Zusage von Privilegien warben die deutschen Landesherren um die Hugenotten, so auch Ernst August, Kurfürst von Hannover. Schließlich habe es sich nicht um Wirtschaftsflüchtlinge, sondern um Glaubensflüchtlinge gehandelt, von deren Manufakturen man zu profitieren hoffte. In der Folge wurde 1690 eine hugenottische Gewerbekolonie in Hameln gegründet, so Herrenbrück. Die ersten Hugenotten, die am 3. März 1690 in Hameln ankamen, bildeten eine Gruppe von 102 Männern und Frauen. Sie waren Weber, Tuchscherer, Spinnerinnen, Bandwirker, Strumpfproduzenten und Fachkräfte des Lederhandwerks.
„Um 1700 ist jeder fünfte Hamelner ein Hugenotte“
Bis 1700 wuchs die Zahl der Franzosen in Hameln auf bis zu 700 an. Und weil Hameln damals erst knapp 3000 Einwohner hatte, folgerte später Martin Hoffmann (1948-2018) als Pastor der evangelisch-reformierten Gemeinde zur Verdeutlichung der zeitweisen Präsenz der Hugenotten: „Um 1700 ist jeder fünfte Hamelner ein Hugenotte.“ Spätestens ab 1711 wird die Kolonie „entflechtet“, auf Kosten ihrer Privilegien werden die Hugenotten als Bürger der Stadt eingegliedert. Konfessionell bleiben sie eigenständig.
Doch 1827 ist die Hugenotten-Gemeinde auf zirka 40 Personen geschrumpft. Die Stadt enteignet die Gemeinde. 1901 aber gründen einheimische Glaubensgeschwister die evangelisch-reformierte Gemeinde, die sich der früheren Hugenotten-Gemeinde eng verbunden fühlt. 1911 erfolgte die Straßenbenennung. „Der geschichtsträchtige und aussagekräftige Name ,Hugenottenstraße‘, so hoffte Pastor Smidt, konnte seine Gemeinde in ihrem Zusammenwachsen stärken“, sagt Herrenbrück. Gleichzeitig war der Name eine Botschaft an die städtische Öffentlichkeit,nämlich in Abgrenzung zu Sekten und freikirchlichen Gruppen eine vollgültige Gemeinde und Kirche zu sein.
Nach wie vor liegt der Gemeinde daran, die Erinnerung an die Hugenotten am Leben zu erhalten. So ergriff Petra Erdmann-Ahlers die Initiative für das Erklärschild an der Hugenottenstraße. „Viele wissen mit den Hugenotten nichts anzufangen, das Schild soll als Denkanstoß dienen“, sagt die Ältestenpredigerin.
Im Gottesdienst am Sonntag, 23. Januar, um 10 Uhr in der evangelisch-reformierten Kirche, geht es um Flucht und Vertreibung. Ein Thema, das durch die Hugenotten auch Teil der Geschichte der Gemeinde ist. „Wir bleiben nicht bei den Hugenotten stehen, aber sie sind unser Erbe“, sagt Erdmann-Ahlers.