HAMELN. In „Glückliche Tage“, 1961 in New York uraufgeführt und nur 13 Tage später auch in Berlin, ist es das Ehepaar Winnie (Verena Koch) und ihr 60-jähriger Mann Willie (Franz Huber), deren Existenz sich in Auflösung befindet. Winnie zelebriert Rituale, wenn sie mit Schirm, Revolver, Brille, Spiegel, Nagelfeile, Zahnbürste und Zahnpastatube hantiert. Willie liest Sätze aus einer Zeitung vor.
„Wieder ein himmlischer Tag“ – und Winnie, bis über die Taille in einem Hügel eingegraben, der sie gefangen hält, meint es ernst damit. Hat sich mit der Situation, in der sie lebt, arrangiert. Eine absurde Welt, in der sie, dieser 50-jährige, weibliche Torso, ihre Tage verbringt, sinnlos mit Gegenständen hantiert. Warten, dass die Zeit vergeht – ein Thema, das Samuel Beckett in allen seinen Stücken beschäftigt. „So ist die Zeit vergangen“, sagt Wladimir in „Warten auf Godot“. „Sie wäre sowieso vergangen“, antwortet Estragon. Und wieder Wladimir: „Ja. Aber langsamer.“
Warten als Lebensrealität und Spiel, das die Zeit verkürzt. Absurde Situationen zur Seins-Frage gesteigert. In der Inszenierung „Produktion Zweitspiel“ aus Linz sitzt Winnie auf einem Stuhl, bis zur Taille in eine Decke gehüllt. Der Hintergrund – nicht Wüstenlandschaft, eher Wagenburg im Niemandsland. Auf Seilen hängen lange Unterhosen, Laken, rechts ein Verschlag für Willie. Es ist hier nicht die Winnie, die von der Erde nach unten gezogen wird. Im zweiten Akt ist es nur noch ihr Kopf, der aus dem Hügel herausblickt. In der Inszenierung von Almuth Hattwich und Isabella Reder – am Mittwochabend in stark gekürzter Form im Theater auf der Bühne – verhüllt sich Winnie mit ihrem Tuch bis zum Hals. Aber auch hier freut sie sich, dass sie noch lebt.„Oh, dies ist ein glücklicher Tag, dies wird wieder ein glücklicher Tag gewesen sein! Trotz allem – bislang.“ Dann summt sie die Melodie, singt sanft „Lippen schweigen, ’s flüstern Geigen: Hab mich lieb!“ Mit „Du hast mich lieb!“ endet das Stück.
Beckett wehrte sich gegen Deutungshilfen, wollte es dem Publikum überlassen, wie ernst sie das Stück sehen wollten oder als bittere Ironie. Für Beckett ist das Leben – „diese fürchterlich schwierige Angelegenheit“ – nur noch absurd darstellbar.
Faszinierend, wie genau Beckett sein Stück orchestriert – nichts, nicht die kleinste Bewegung, dem Zufall überlässt: „Winnie legt Lupe und Bürste hin, nimmt Taschentuch aus ihrem Mieder, nimmt Brille ab und putzt sie, setzt Brille auf, sucht nach Lupe, nimmt sie und putzt sie, legt Lupe hin, sucht nach Bürste, nimmt Bürste und wischt Griff, legt Bürste hin, steckt Taschentuch wieder ins Mieder, sucht nach Lupe, nimmt Lupe, sucht nach Bürste, nimmt Bürste und mustert Griff durch Lupe.“
Verena Koch ist Winnie – zelebriert ihre Rituale mit den wenigen Gegenständen, die ihr geblieben sind, lebt Gegenwart und Erinnerungen, spielt mit den Worten und Sätzen, die ihr noch einfallen. Ist rührend hilflos, auftrumpfend, verzweifelt, gerührt – gewinnt ihrer Stimme immer neue Nuancen ab. Eine beeindruckende Leistung. Was der Inszenierung durch den Verzicht auf den Hügel allerdings fehlt: die Ausweglosigkeit – das Endgültige, das „Glückliche Tage“ zum makabren Spiel werden lässt.
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