HAMELN. Schon der Abgleich der Instrumente des Göttinger Symphonieorchesters mündet in einem Moll-Akkord: Die melancholische Grundstimmung nimmt in den ersten beiden Werken, die am Dienstag im Theater Hameln zu Gehör gebracht wurden, ihren Lauf.
Ein kurzes Stück des eher unbekannten Komponisten Anatol Liadov macht den Anfang. „Baba Jaga“ ist in der russischen Mythologie eine Mischung aus Hexe und Großmütterchen, mal gut, mal böse – genauso gestaltet sich die stürmische Reise durch den nächtlichen, windigen Wald.
Solist des russischen Abends ist Joseph Moog – die treuen Konzertbesuchenden kennen ihn bereits von seinen lyrischen Chopin-Interpretationen vor zwei Jahren. Heute steht der Pianist vor einer ganz anderen Aufgabe: Das „Konzert für Klavier und Orchester“ von Sergej Rachmaninow gilt wegen der enormen technischen Herausforderungen als „die Todeszone der Virtuosität“, gewissermaßen als der 8000er-Gipfel für einen Bergsteiger.
Dunkel, fast düster ist die Atmosphäre zunächst auch bei diesem dreisätzigen Werk, Moogs Finger perlen auf der Tastatur hin und her, vielstimmige Akkorde wechseln mit langen, komplizierten Arpeggien – man erahnt, was das Stück für Hürden haben kann.
Versöhnliche Harmonien dann wieder bei einem Intermezzo, das an den „Amerikaner in Paris“ erinnert – die kurze, reine Romantik weicht schnell einem arabisch anmutenden Teil. Rachmaninow hat mit seinem Klavierepos seinen Zuhörenden und sich selbst viel zugetraut. Sich selbst, weil er 1910 bei der Uraufführung in New York auch als Solist fungierte und bis zum letztmöglichen Zeitpunkt an der Komposition gefeilt hat, so dass er auf der Schiffsreise nach Amerika auf einer lautlosen Tastatur bis direkt vor seinem Auftritt geübt haben soll.
Sehnsuchtsvoll beginnt der 2. Satz. Sanfte, gestrichene Töne werden jäh unterbrochen durch den Flügel – als ob er sagen wolle: „Hört doch, ich bin auch noch da.“
Rachmaninow ist womöglich der westlichste der russischen Komponisten von Weltrang; ein ums andere Mal werden Assoziationen an George Gershwin wach, bis Geigen und Klavier gemeinsam dem triumphalen Ende entgegen marschieren. Dritter Komponist ist Pjotr Tschaikowsky: Dessen berühmte 4. Symphonie steht dem furiosen Vorgänger in nichts nach. Die fast militärische Präzision der Streicher wird von den Blechbläsern gebrochen. Celli, Bratschen und Violinen sind durchgängig in Aufruhr. Die gesamte Komposition ist extrem vielschichtig. Immer, wenn sich die beiden behäbigen Oboen in trügerischer Sicherheit wiegen, lauern im Hintergrund die bösen Bläser, die das Idyll zerstören wollen.
Wer wird sich durchsetzen, das Positive oder die Trauer?
Am Ende ist es die Freude, die die Oberhand behält – selten bei Tschaikowsky, der sein Leben lang unter Depressionen litt und beim Komponieren dieser Symphonie Selbstmordgedanken hegte.
Am Ende gibt es ausdauernden Applaus für das Orchester. Seayoung Kim, die erste Konzertmeisterin, bekommt genau wie der souveräne Dirigent Nicholas Milton einen Blumenstrauß überreicht – sie hat allerdings schon einen, denn Moog hatte den ihm zugedachten Strauß vor der Pause unter Bravorufen an sie weitergereicht – und sich damit für die grandiose Orchesterleistung bedankt.
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