HAMELN/WIEN. „Ein Journalist mit Leib und Seele“ nannte ihn Verleger Günther Niemeyer bei seinem Abschied nach 16 Jahren als Chefredakteur der Dewezet und betonte: „Ein Mann mit klaren Vorstellungen, Überzeugungen und Prinzipientreue.“ Von Hamelns damaligem Oberbürgermeister Klaus Arnecke wurde er als „Kämpfer für die Region“ gewürdigt und bescheinigt: „Sie haben in Hameln auch etwas bewegt.“
Am vergangenen Freitag ist Dr. Hermann A. Griesser im Alter von 84 Jahren in Wien, wo er sich an den Rand des Wienerwaldes zurückgezogen hatte, verstorben.
Bevor Dr. Griesser, 1937 in Landeck in Tirol geboren, als Chefredakteur zur Dewezet kam, war er leitender Redakteur beim „Rheinischen Merkur“, bei der „Welt“ und beim „Münchner Merkur“. Ein Chefredakteur, der genau wusste, was er wollte. Mit ihm begann eine neue Ära. Zweifelsohne: Griesser polarisierte. Oft gewollt – manchmal auch ungewollt. Seine Leitartikel waren nie sowohl-als-auch – formulierten jeweils eine klare Meinung, die immer wieder in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zitiert wurde. Eine nicht übliche Anerkennung für eine Heimatzeitung.
Was Dr. Griesser auszeichnete: Er hat, weil er viel von sich verlangte – er war morgens immer einer der Ersten und abends einer der Letzten in der Redaktion – auch viel von seinen „Frau Kolleginnen“ und „Herrn Kollegen“ verlangt.
Selbst im Urlaub oder auf Dienstreisen ließ er sich täglich mehrmals über den Stand der Nachrichten informieren, weil er wissen wollte, was am nächsten Tag im Blatt stünde, was er letztlich zu verantworten hatte. Was er sich – wenn auch unausgesprochen – wünschte: den 24-Stunden-Redakteur, der seine Abende und Nächte lauschend an den verschiedenen Theken verbringt und dort, frei nach Luther, dem „Volk aufs Maul“ schaut. Und überzeugt war Griesser, dass die wichtigsten Themen die der Stammtische sind, die dann redaktionell sozusagen auszubeuten waren.
Was Dr. Griesser zusätzlich wichtig war: Kommentare, in denen seine Redakteure ihre Ansichten äußern sollten. Dafür schuf er Freiräume. Sah es gern, wenn seine Mitarbeiter sich auch draußen orientierten. Parteitage besuchten – und wer vom Kultur-Ressort Ausstellungen in Hamburg besuchen oder über die „Berlinale“ berichten wollte, hatte das Ticket schon in der Hand. Umgekehrt kaum eine Woche, dass nicht ein Hochkaräter aus Politik und Entertainment zu Besuch in der Redaktionskonferenz gewesen wäre.
Ob Gerhard Schröder oder Sigmar Gabriel als Ministerpräsidenten, auch Christian Wulf oder der Europaabgeordnete Otto von Habsburg oder die Grünen-Ikone Jürgen Trittin – dazu Medien-Stars wie Reinhold Messner oder Hape Kerkeling mit zusätzlichen Telefonaktionen – Griesser hat immer dafür gesorgt, dass die Leser seiner Dewezet aus erster Hand informiert wurden.
Das war oft zeitaufwendig, auch nervig – aber er hatte auch ein untrügliches Gespür für Qualität, die er forderte – und einkalkulierte: „Wenn mich meine Redakteure lieben, habe ich etwas falsch gemacht.“ Immerhin bescheinigte er ihnen beim Abschied: „Ihr seid ein tolles, professionelles Team gewesen.“
Beliebt seine Serie „Meine Woche“, die jeweils am Sonnabend im Blatt stand. Vor allem Lokalpolitik als Wochenrückblick, Begegnungen, Erlebnisse, Personelles – Trends, Analysen und kleine philosophische Einschübe – locker-leicht zu lesen mit vielen satirischen Seitenhieben, die dennoch nie verletzten.
Nach seinem Abschied als Chefredakteur – Griesser war von 1986 bis 2002 in Hameln – am Rand des Wienerwaldes, wo der Heurige ohne Touristen auskommt, entstand sein umfangreicher Roman „Der Morgenwanderer“, ganz in der Tradition eines Thomas Mann oder Robert Musil. Eine ebenso spannende wie anrührende Geschichte, die tief eintaucht in menschliche Schicksale und die verworrenen Szenarien unserer so dramatisch verlaufenen Geschichte. Vom diktatorischen Ständestaat Österreichs über die Zeit der Nazi-Diktatur und deren gerichtliche Aufarbeitung – auch Versäumnissen – bis in DDR-Zeiten. Ein faszinierendes Zeitpanorama.
Ein unruhiger Geist, Journalist und Schriftsteller, der immer eine eigene Meinung hatte, ein Profi, unbequem, aber auch ein Chef, wie man ihn sich nur wünschen kann. Nach außen immer auf der Seite seiner Redaktion, deren Bedürfnisse er auch gegen den Verlag verteidigte – auch wenn er dessen wirtschaftliche Kompetenz immer anerkannte.
Es war – wenn auch nicht für alle, natürlich nicht – eine schöne, aufregende Zeit. Eines seiner Lieblingszitate: „A.E.I.O.U“, ein Kürzel, das auf allen offiziellen Habsburg-Bauten zu finden ist und für „Austria est in orbe ultimo“ steht. Was so viel heißt, wie „Österreich ist das Letzte“ – auch das, was übrig bleiben wird. Bei Dr. Griesser – eine schöne Erinnerung.