Die Pläne der Regierungsparteien alarmieren Eltern und Lehrkräfte landauf, landab. Die Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik (dgs) hat mit einem Arbeitskreis der Schulleitungen aus dem Förderschwerpunkt Sprache einen offenen Brief verfasst, ein Gespräch mit der niedersächsischen Kultusministerin Frauke Heiligenstadt fand am 5. September statt. Zudem haben die Eltern eine Online-Petition unter www.openpetition.de auf den Weg gebracht, Briefe ans Kultusministerium, die Vertreter der Politik und an Stadt- und Kreiselternräte verschickt.
Auch an der Aerzener Grundschule ist man beunruhigt: „Für uns sind Inklusion und Sprachheilklassen kein Widerspruch“, sagt Schulleiter Uwe Jens Eberhardt. In den Aerzener Sprachheilklassen werden Kinder mit Sprachförderbedarf ab der ersten Klasse auf die Regelschule vorbereitet, der Unterrichtsstoff erstreckt sich auf einen Zeitraum von zwei Jahren. Neben der sprachlichen Förderung gibt es die sonderpädagogische Grundversorgung. Die Sprachheilklasse hat im Schnitt 12 Kinder, die aus dem ganzen Landkreis kommen. Eine weitere Sprachheilklasse gibt es in der Grundschule Tündern.
Schulleiter Uwe Jens Eberhardt ist kein Inklusionsgegner. Die Argumente für eine gemeinsame Beschulung haben aus seiner Sicht Gewicht: Während in einer Sprachheilklasse das einzig korrekt sprechende Vorbild der Lehrer sei, hätten die Förderkinder in einer Regelklasse viele Vorbilder. Auf der anderen Seite falle bei Abschaffung der Klassen eine gezielte Förderung flach, die von den Eltern sehr geschätzt wird. Im Rahmen der Inklusion werden sie durch zwei Förderschulstunden pro Woche pro Klasse ersetzt. Die eingesetzten Förderlehrer haben vor allem beratende Funktion: Die Hauptverantwortung liegt bei der Grundschullehrkraft.
„In den Sprachheilklassen gibt es immer Kinder, die ohne Probleme inklusiv beschult werden können“, sagt Brigitta Holte, Förderschullehrerin mit Schwerpunkt Sprache, aber es gebe eben auch solche, bei denen trotz Unterstützung weiter hoher Förderbedarf bestehe. Ob diese Kinder mit den beiden Förderschullehrstunden auskämen, wagt sie zu bezweifeln, denn die müssen aufgeteilt werden auf Kinder mit unterschiedlichen Defiziten, wie zum Beispiel emotional-soziale Probleme.
„Warum will man Eltern sprachbehinderter Kinder das Recht zwischen inklusiver Beschulung oder Beschulung in einer Förderklasse/-schule zu wählen absprechen, das Eltern von Kindern mit anderen Behinderungsformen zugestanden wird?“, fragt Susanne Fischer, Vorsitzende der Landesgruppe Niedersachsen der dgs.
Was man ehrlicherweise bedenken müsse, so Eberhardt, sei, inwiefern ein doppelgleisiges System, also Spracheilklassen und inklusive Schule, finanzierbar sei. Wenn auch eine Klasse für gravierende Fälle wünschenswert sei, müsse insgesamt wohl reduziert werden.
Die dgs sieht es anders: Dort glaubt man, dass die Umsetzung der sonderpädagogischen Grundversorgung, die als inklusive Schule verkauft wird, auf dem Rücken sprachbehinderter Kinder stattfindet. Um unter anderem die Kosten der Inklusion zu decken, müssten auch die Gymnasiallehrer eine Stunde mehr arbeiten, vermutet Brigitta Holte.
Sie ist überzeugt, dass die Abschaffung der Sprachheilklassen ein Fehler ist. Die Klassen seien eine vorbereitende Durchgangseinrichtung, eingebettet in die Inklusion. Intern gebe es fließende Übergänge zu anderen Fächern wie Mathematik oder Sport. Die Förder-Grundversorgung gebe es in Aerzen übrigens seit über einem Jahrzehnt. „Da waren Bad Münder, Hessisch Oldendorf und Aerzen in den 90ern Vorreiter.“ Für Aerzen ändert sich also mit Einführung der inklusiven Schule nicht viel – „außer dass ein Förderzweig komplett wegfallen würde, den wir alle sehr wertschätzen“, sagt Uwe Jens Eberhardt und fügt an: „In Abwägung der Fakten ist das hier bereits eine sehr inklusive Lösung.“