BAD PYRMONT. Mit dem vierten Orgelkonzert am Samstagabend in der Stadtkirche endete die Reihe „Pyrmonter Orgelherbst“ und setzte damit an ihren Schluss ein dickes Ausrufezeichen. Stadtkirchenkantor Dirk Brödling, sonst selbst an den Tasten tätig, fungierte diesmal als künstlerischer Leiter und überließ die Orgel dem international renommierten Organisten Paolo Oreni.
Der 42-Jährige ist ausgewiesener Experte für Orgelimprovisationen als Filmbegleitung, und er hatte sich mit dem Stummfilm „Der Galiläer“ des russischen Regisseurs Dimitri Buchowetzki aus dem Jahr 1921 einen wahren Leckerbissen als Sujet gewählt. Dieser viragierte Film, also in verschiedenen Partien blau, orange, rot oder sepia getönt, bezieht sich mit seinem Titel auf Galiläa, den Geburtsort Jesu, und zeigt Szenen aus dem Leben und Sterben Jesu Christi, wie etwa den Einzug in Jerusalem, das Abendmahl mit deutlicher Anlehnung an Leonardo da Vincis gleichnamiges Gemälde, seine Gefangennahme sowie die Verurteilung und Kreuzigung.
Damaliger Stummfilm-Praxis entsprechend sind die Szenen sehr lang und erzählend geschnitten, doch dafür entwickeln die Darsteller teils hektische Aktivität. Es wird gerannt, nach heutigen Maßstäben heftig und ausufernd gestikuliert, grimmig grimassiert und sich theatralisch bewegt. Neben den namentlich im Film erwähnten Darstellern waren damals am Drehort Freiburg im Breisgau anlässlich der damals stattfindenden Freiburger Passionsspiele rund 3000 Komparsen im Einsatz, um Jesu Gefolge, Priester, Jünger, Händler, Römer, Soldaten und Volk zu verkörpern.
Es gibt viel Dramatik, wütende Emotionen, Kummer, Leid und Schmerz. All‘ das verfolgte Paolo Oreni, auf der Empore an der Orgel sitzend, mittels eines extra installierten großen Rückspiegels, denn die Filmleinwand befand sich genau hinter ihm, eine Etage tiefer und weit entfernt. Mit der Orgel hauchte er dem aufwändig restaurierten Film Leben ein, unterstützte die Dramatik, verlieh dem Klagen und dem Schmerz Tiefe, den Priestern Autorität und den vielfachen Menschenaufläufen quirlige Aktivität. Er zog im wahrsten Sinne des Wortes alle Register, sodass Film und Orgel eine wunderbare kurzweilige und beeindruckende Synthese eingingen. So geriet der Abend zu einem kraftvollen und selten erlebten Ereignis, eines jener Highlights, wie sie in den Pyrmonter Orgelreihen im Sommer und im Herbst häufiger zu finden waren.
Allerdings scheint das Pyrmonter Publikum nicht besonders innovationsfreudig zu sein. Denn sind Komponisten wie Bach, Beethoven oder Mozart auf dem Programm, ist die Kirche voll besetzt, bei Komponisten wie Heinrich Christian Rinck, Léon Boellmann, Camille Saint-Saens oder einem Film-Orgel-Mix ist der Besuch sehr viel sparsamer.
Zu Ostern 2022 legt Dirk Brödling die Reihe wieder auf, dann mit Werken von Charles-Marie Widor – und hoffentlich mit dessen berühmter Toccata aus der 5. Orgelsinfonie.
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