Der Fall Marco Wöbse – Hamelnerin und Opfer haben denselben Vater – für die Richter sind sie nicht verwandt.
Ja, es ist so: Im Prozess um den Mord an Marco Wöbse ist vieles schiefgelaufen. Die Halbschwester erfährt vom gewaltsamen Tod ihres Bruders, dessen Leiche zerstückelt und verscharrt wurde, aus der Zeitung. Die Medien – und nicht die Sicherheitsbehörden – informieren die Hamelnerin darüber, dass die drei Männer, die die Staatsanwaltschaft für die Mörder hält, nach sechs Monaten U-Haft wieder auf freien Fuß gesetzt wurden. Grund: Der Fall ist komplex und kompliziert – die Richter sind schlicht und einfach nicht rechtzeitig in die Pötte gekommen. Das liegt auch daran, dass Gerichte in Deutschland völlig überlastet sind. Die Hamelnerin ist Nebenklägerin, nimmt an sieben Tagen am Mordprozess teil. Dann wird sie als Nebenklägerin aus dem Schwurgerichtssaal gekegelt. Die Verteidiger wollten es so. Lisa-Marie Michalke, sagen sie, sei im strafrechtlichen Sinne gar nicht mit dem Opfer Marco Wöbse verwandt, weil dieser vor ihrer Geburt adoptiert wurde. Dabei ist unstrittig – beide wurden von demselben Vater gezeugt. Durch die Adoption sei das Verwandtschaftsverhältnis erloschen, heißt es. Der juristische Laie reibt sich verwundert die Augen. Aber Gesetz ist nun einmal Gesetz. Die Richter müssen sich an Paragrafen halten, wollen sie nicht einen Revisionsgrund produzieren und riskieren, dass der Prozess platzt. Dennoch ist unbegreiflich, was in Bremen geschehen ist, denn Lisa-Marie Michalke und Marco Wöbse sind ohne Zweifel blutsverwandt. Die Argumentation von Rechtsgelehrten, dass das strafrechtlich nun einmal anders sei, ist schwer nachvollziehbar, denn: In einem ganz bestimmten Fall (um Missverständnissen vorzubeugen: Es ist nur ein Beispiel und hier nicht geschehen) wären Michalke und Wöbse auch nach dem Strafrecht Halbgeschwister. Im Paragraf 173 (Strafgesetzbuch) geht es beispielsweise um Beischlaf zwischen Verwandten. In so einem Fall wären Halbgeschwister strafrechtlich verfolgt worden – selbst dann, wenn das Verwandtschaftsverhältnis bereits erloschen ist. Wer hat sich eigentlich solche Gesetze im Namen des Volkes ausgedacht? Spitzfindig ist das – und alles andere als volksnah.
Copyright © Deister- und Weserzeitung 2023
Texte und Fotos von dewezet.de sind urheberrechtlich geschützt.
Weiterverwendung nur mit Genehmigung der Chefredaktion.