„Jetzt sind wir ein Jahr zurückgeworfen“: Unicef-Mitarbeiterin über die Unterstützung für Kinder in Libyen
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Nach der Hochwasserkatastrophe in Libyen: Bauarbeiter errichten eine Brücke zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil von Darna.
© Quelle: Muhammad J. Elalwany/AP/dpa
Frau Barghouti, Libyen ist politisch faktisch zweigeteilt. In welcher gesellschaftlichen Situation hat das Hochwasser Libyen getroffen?
Im Westen Libyens sind wir in diesem Jahr in eine stabilere Phase eingetreten als in den vergangenen Jahren, die von Konflikten und Zerstörung geprägt waren. Die Kinder konnten wieder aufleben und sich erholen. Im Osten unterstützen wir mit Unicef weiterhin das Bildungs- und das Gesundheitssystem, um die Kapazitäten zu stärken. Jetzt sind wir ein Jahr zurückgeworfen worden. Wir bauen Baity-Zentren [arabisch für „mein Zuhause“, Anm. der Red.] auf, die vor allem Migranten in Libyen medizinisch, sozial und mit Bildung unterstützen.
Und in welcher Situation befindet sich die infolge von zwei Dammbrüchen überflutete Hafenstadt Darna nun?
Mehr als 500 von der Flut Betroffene sind in registrierten Unterkünften untergebracht, etwa die Hälfte der Stadt hat keinen Strom, das Internet ist ausgefallen und mindestens 2180 Gebäude wurden durch die Fluten beschädigt oder zerstört. Die kritische Infrastruktur wie Straßen, Brücken, Telekommunikationseinrichtungen und das Stromnetz im Nordosten Libyens wurden beschädigt. Wir brauchen 6,5 Millionen US-Dollar für die sofortige und rasche Bereitstellung von lebensrettenden Hilfsgütern.
Wir waren einen Monat davon entfernt, ein Baity-Zentrum in Darna zu eröffnen. Die örtlichen Behörden waren so glücklich, dass sie mitmachen konnten, die Gemeinde hatte bereits ein Gebäude angeboten. Aber dann kam die Flut, die große Zerstörung. Darna hat eine Gesamtbevölkerung von etwa 100.000 Einwohnern, mindestens 5 Prozent sind bereits tot. Das ist eine enorme Zahl. Dazu kommen 35.000 Menschen, die durch die Zerstörung vertrieben wurden. Sie suchen Schutz in Schulen, Wohnungen von Verwandten und öffentlichen Einrichtungen.
Wie sieht Ihre Hilfe zurzeit aus?
Unser Team versucht, Kontakt zu den Menschen in Darna aufzunehmen, um die Lage zu beurteilen. Die Stadt ist durch die Flut jetzt in zwei Teile geteilt. Es ist schwierig, den östlichen Teil der Stadt zu erreichen. Die Behörden versuchen, eine Art Brücke und eine sichere Straße zu bauen. Wir hoffen, dass die Vermissten aus dem anderen Teil der Stadt stammen, der nicht angeschlossen ist – dass wir sie deshalb nicht erreichen können, und nicht, weil sie tot sind.
Wir haben 1100 Sets mit Medikamenten und Hygieneartikeln für 10.000 Menschen und Kleidung für 500 Kinder zur Verfügung gestellt. Und wir haben mit der Beschaffung von rund 50 Tonnen lebensnotwendiger Hilfsgüter begonnen. Dazu impfen wir und sorgen für Ernährungshilfe in Form von Vitamin A. Außerdem haben wir 32.000 Chlor-Wasserreinigungstabletten verschickt, da ein hohes Risiko der Wasserverunreinigung besteht.
Es gibt bereits Meldungen über Krankheitsausbrüche wegen verunreinigten Trinkwassers. Wie sieht die medizinische Versorgung aus?
Das Nationale Zentrum für Seuchenkontrolle hat 54 Kinder mit Durchfall gemeldet. Wir arbeiten an der Wiederherstellung von sauberem Wasser und der Überwachung der Qualität. Die Wasserinfrastruktur steht vor großen Herausforderungen, denn die Hälfte der 18 Bohrlöcher ist nicht betriebsbereit. Die wichtigsten Krankenhäuser und Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung sind stark betroffen. Drei Schulen wurden vollständig zerstört und vier überflutet. In Darna gibt es elf Schulen, die nicht von den Überschwemmungen betroffen sind, und mindestens sechs Schulen werden als Notunterkünfte der Verteilungsstellen genutzt.
Unicef geht von 300.000 Kindern aus, die von der Flut betroffen sind. Können Sie das spezifizieren?
Die Kinder sind traumatisiert und brauchen dringend psychologische Unterstützung. Die genaue Zahl der getöteten oder verletzten Kinder ist bis heute nicht bekannt. Wir finden immer mehr unbegleitete Kinder, die von ihren Eltern getrennt sind. Unsere Schutzmaßnahmen beinhalten auch die Suche nach ihren Familienangehörigen. Es ist wichtig zu verstehen, dass es bei der Hilfe nicht nur um die Menge der Lieferungen geht. Genauso wichtig sind die erbrachten Hilfestellungen. Dazu gehören die psychosoziale Betreuung der betroffenen Kinder und Eltern sowie für unsere Ersthelfer. Wichtig ist auch, für Hygienemaßnahmen zu sensibilisieren. Die Hilfe muss ein ganzheitlicher Ansatz sein, der sowohl den unmittelbaren als auch den langfristigen Bedarf deckt.
Die Flutwelle kam vergangenen Sonntag, noch immer ist die Situation unübersichtlich. Wie lange wird die Region auf Hilfe angewiesen sein?
Für so eine Schätzung ist es zu früh. Noch in dieser Stunde versuchen die Rettungsteams, die Menschen unter den Trümmern hervorzuholen und sie zu erreichen. Die Zerstörung ist gewaltig, es ist ein Albtraum. Die Stadt ist ins Meer gespült worden. Ganze Großfamilien sind einfach verschwunden. Es gibt Familien, in denen 100 Mitglieder gestorben sind. Die Menschen haben buchstäblich nichts außer den Kleidern, die sie anhaben. Sie brauchen dringend ein Dach über dem Kopf. Wir reden jetzt nicht über Rehabilitation, über Wiederaufbau, sondern es geht um die Rettung von Leben.