Vom Leben der Sinti am Hamelwehr
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Die Familie Weiß prägte das Leben am Hamelwehr ab 1964 maßgeblich mit. Foto:Johann Weiß/pr
Familie Weiß ist in Hameln ein Begriff. Fast jeder hat von ihr gehört. Fast jeder hat eine Meinung über sie. Häufig ist sie negativ – selbst wenn es keinerlei Berührungspunkte mit der Sinti-Familie gibt. In der Serie „Familie Weiß“ beleuchtet die Dewezet Geschichte und Gegenwart der Hamelner Sinti, stellt Vorurteile auf den Prüfstand und lässt die Angehörigen dieser staatlich anerkannten nationalen Minderheit zu Wort kommen.
Ob die Erzählungen der einstigen Hamelwehr-Bewohner gut oder schlecht ausfallen, hängt oft davon ab, in welchem Alter sie dort gelebt haben. Die Erwachsenen trugen die Verantwortung. Sie bekamen die Not, die am Hamelwehr im Laufe der Zeit herrschte, besonders zu spüren. Umso betrübter sind ihre Erinnerungen. Aber viele Sinti haben die Jahre in der Sozialbausiedlung am Rande der Südstadt als eine gute, fröhliche und vor allem gesellige Zeit in Erinnerung. Dabei war Familie Weiß anfangs durchaus skeptisch.
Als die Stadt 1964 ankündigte, sie von ihrem inoffiziellen Wohnwagenplatz am Rettigs Grund in der Nordstadt ans Hamelwehr umzusiedeln, äußerten sie Bedenken. Der schlechte Ruf, der dem Hamelwehr vorauseilte, war auch den Sinti nicht entgangen.
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Karl Weiß (2.v.re.), der „Bürgermeister“ vom Hamelwehr, mit anderen Angehörigen der Familie Weiß vor den zwischen 1933 und 1935 errichteten Sozialbauhäusern Am unteren Hamelwehr.Foto: Johann Weiß/pr
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Den Grundstein für die Siedlung legen 1933 die Nationalsozialisten. Im „Arbeitsbeschaffungsprogramm“ werden Am unteren Hamelwehr „Not- und Behelfswohnungen“ gebaut. In den 50er Jahren wird die Sozialbausiedlung um Baracken erweitert. Das Hamelwehr macht einen Wandel durch: vom sozial intakten und gepflegten Viertel in den 30er, 40er und 50er Jahren zum sozialen Brennpunkt am Rande der Verwahrlosung in den 60er und 70er Jahren. Berichte über Gewalt und Alkoholeskapaden prägen das Bild. Erst 1977 werden die letzten Häuser abgerissen.
Karl Weiß hatte nach dem Tod von Heinrich Weiß ein Jahr zuvor die Sprecherrolle seines Vaters übernommen. Im Sommer 1964 erklärte er dem Stadtdirektor und späteren niedersächsischen Innenminister Rötger Groß (FDP), dass seine Angehörigen „lieber am Rettigs Grund bleiben“ wollen. Sie befürchteten, „ständig in Auseinandersetzungen mit den anderen Barackenbewohnern verwickelt zu werden“. Wie aus Gesprächen mit einzelnen Sinti hervorgeht, ging diese Sorge auch darauf zurück, dass am Hamelwehr bereits ähnlich große (Schausteller-)Familien mit Sinti-Hintergrund oder Jenische lebten, zu denen ein nicht immer spannungsfreies Verhältnis bestanden habe. Zudem schreckten die Sinti die am Hamelwehr herrschenden Wohnverhältnisse ab, wie aus einem Bericht der Hannoverschen Presse vom 8. September 1964 hervorgeht. Die Familie Weiß, heißt es darin, „ist in Hameln seßhaft geworden und sehnt sich wie jeder rechtschaffene Mensch nach einer ordentlichen Wohnung mit den selbstverständlichen sanitären Anlagen. Daß diese Voraussetzungen nicht das Hamelwehr bietet, leuchtet ein“.
Doch die Bedenken der Weiß‘ waren nur von kurzer Dauer. Zumal keine Alternative greifbar war, weil das britische Militär den Platz am Rettigs Grund für eigene Zwecke beanspruchte. Im November 1964 zog Familie Weiß ans Hamelwehr.
Reilo Weiß war damals 17 Jahre alt. Natürlich sah er die Welt mit anderen Augen als sein Stiefvater. Dieser beantragte noch drei Jahre später eine andere Unterkunft, weil „die ewigen Streitigkeiten und teilweise Schlägereien zwischen den anderen Bewohnern (…) von uns nicht länger ertragen werden“. Stattgegeben wurde dem Antrag nicht.
Über 50 Jahre später, 2015, steht Reilo Weiß an einem bitterkalten Novembertag am Nordrand des Tönebönplatzes auf dem Deich der Fluthamel und blickt aufs andere Ufer. Auf das Gewerbegebiet, wo sich die Sozialbausiedlung befand. „Das war Hamelwehr“, sagt er. „Die Alten wollten hier nicht her, machten sich Sorgen um uns. Das Hamelwehr hatte einen schlechten Ruf. Aber so schlimm war es auch nicht.“
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Jenische sind eine Minderheit, die in Deutschland und anderen europäischen Ländern zu Hause ist. Ihre Wurzeln sind nicht eindeutig geklärt. Vermutet werden sie in der gesellschaftlichen Unterschicht der frühen Neuzeit. Diskriminierung und wirtschaftliche Not zwang sie zu häufigen Ortswechseln. In der NS-Zeit wurden sie als „nach Zigeuner Art“ Lebende verfolgt. Viele waren bzw. sind als Hausierer, Artisten und Schausteller tätig. Ihre Sprache ist das Jenische. In Deutschland sollen etwa 100 000 Jenische leben. Eine Interessenvertretung ist der Jenische Bund.
Zunächst sahen manche Sinti in der neuen Bleibe sogar eine deutliche Verbesserung ihres Lebensstandards. „Die Baracken am Hamelwehr waren für uns praktisch die erste Wohnung“, sagt Bluma Weiß (88). „Baracken zwar, aber für uns wie ein Palast.“
Reilo Weiß zeigt den Damm entlang in Richtung Ohsener Straße. „Da war früher eine Kneipe“, sagt er. „Ein Weg vom Hamelwehr führte direkt dorthin.“ Seine Mutter hatte darauf bestanden, ihren Wohnwagen mit ans Hamelwehr zu nehmen. „Sie hat den Wohnwagen noch jahrelang gehabt. Die konnte sich nicht davon trennen“, erzählt Weiß. „Das war ihre Heimat. Wir sind da ja praktisch groß drinnen geworden.“
Mitgenommen wurde auch der ausgediente Postbus, der den Sinti als Gemeindesaal diente. „Die Sinti hatten ein anderes Temperament“, sagt Pastor Harald Specht vom Freien Evangelischen Zentrum über die Bibelstunden, die er und andere im Bus mit den Sinti abhielten. „Wenn draußen jemand vorbeilief, standen sie auf und riefen ihm zu. Deshalb haben wir irgendwann den unteren Teil der Scheiben abgeklebt, damit sie nicht mehr von außen abgelenkt wurden.“
Reilo Weiß vermisst vor allem die Gemeinschaft der Sinti, die am Hamelwehr schon allein aufgrund der räumlichen Nähe bestanden hat. Doch die Alten sehnten sich nach mehr Komfort, „und das kann ich verstehen, aber mir wäre es lieber gewesen, wir wären geblieben“, sagt Weiß. Stattdessen verteilten sie sich im Laufe der Zeit über die Stadt.
Manche Sinti zogen in Werkswohnungen der ans Hamelwehr angrenzenden Handschuhfabrik Hahlbrock. „Das war die schönste Zeit“, sagt Wiesemann Rosenberg (50). „Damals wohnten wir alle zusammen. Mein Onkel wohnte mit seiner Familie direkt nebenan in der anderen Haushälfte, mit meinen Cousins und Cousinen.“ Zusammen gingen sie zur Schule und zum Angeln. „Wir hatten einen Riesengarten mit lauter Blumen“, sagt Rosenberg. „Und hinterm Haus hatten wir Kartoffeln, Hühner, Schweine und Pferde.“
Einige der damaligen deutschen Bewohner und Besucher des Hamelwehrs haben die Familie Weiß noch gut in Erinnerung. Manche erinnern sich an ihre Lagerfeuer vor den Baracken und an die Musik mit Geige und Gitarre, die sie dazu spielten. Andere ließen sich von einer älteren Sintezza aus der Hand lesen. Wieder andere gerieten mit einzelnen Sinti in Streit. Doch den gab es mit anderen Bewohnern auch.
Aber am Hamelwehr war längst nicht alles gut. 1966 beklagte Ratsherr Bruno Ibsch (CDU) nach einer Besichtigung der Siedlung bei Regen kaum begehbare Wege und den Mangel an sanitären Anlagen, wie die Dewezet berichtete. Fassungslos sei Ibsch angesichts einer jüngst am Hamelwehr aufgeschlagenen Schaustellerfamilie, die mit zehn Kindern in einem Wohnwagen lebe. In diesem Zusammenhang merkte Stadtdirektor Groß an, dass die vom Rettigs Grund ans Hamelwehr umgesiedelten „Zigeuner“ anstandslos ihre Miete bezahlten und „bei Zwischenfällen, die sich von Zeit zu Zeit dort ereignen, niemals beteiligt gewesen“ seien. „Sie hätten sogar darum gebeten, sie vor Ausschreitungen in Schutz zu nehmen“, so Groß.
Ansprechpartner, wenn es um Angelegenheiten der dort lebenden Sinti ging, war Karl Weiß. Er war der sogenannte „Bürgermeister“, der wohl auch sonst einen guten Draht zu seinen Mitmenschen hatte. „Das war ein Hansdampf in allen Gassen, ein sehr agiler, kontaktfreudiger Typ“, sagt Pastor Specht. Vertrauenswürdig war er wohl auch. Der Großvater von Wolfgang Klemme (69) hatte am Hamelwehr einen Pferdestall. Als er wegzog, vertraute er dem „Bürgermeister“ die Schlüsselgewalt über den zur Garage umfunktionierten Stall an, erzählt Klemme. Bürgermeister – so nannten ihn nicht nur die Leute am Hamelwehr. Rolf Homberg (80) war er sogar als „Häuptling der Familie Weiß“ bekannt. Er hatte beruflich mit ihm zu tun und kann nur Gutes über ihn sagen. „Ich war sogar auf seiner Beerdigung“, sagt Homberg.
Der Bürgermeister wurde nur 53 Jahre alt. Über 500 Trauergäste, die meisten davon Angehörige der Sippe Weiß aus ganz Deutschland, nahmen im Januar 1980 bei der Bestattung am Friedhof Wehl von ihm Abschied, wie die Dewezet umfangreich berichtete. Das Hamelwehr war drei Jahre zuvor aufgelöst worden. Karl Weiß‘ letzter Wohnsitz war die Deisterstraße.
DEWEZET