Familie Schön lebte dort von den 30ern bis in die 60er Jahre

Hamelwehr-Serie Teil 2: „Die Kinder vom Nega-Dorf“

Drei von sieben Geschwistern: Karola Langner (v. li.), Alfred „Appid“ Schön und Herta Carley. Foto: pk

Drei von sieben Geschwistern: Karola Langner (v. li.), Alfred „Appid“ Schön und Herta Carley. Foto: pk

Wenn die Schöns vom Hamelwehr erzählen, dann geraten sie ins Schwärmen. Sie haben in der verschrienen Siedlung von den 1930er Jahren bis in die 50er Jahre eine weitestgehend glückliche Kindheit und Jugend verbracht. Sie sind Herta Carley (81) und Karola Langner (84; beide geborene Schöns) und ihr Bruder Alfred „Appid“ Schön (83), drei von insgesamt sieben Geschwistern. Bei einem Kaffee im Wohnzimmer der Langners in der Hamelner Altstadt schwelgen sie in Erinnerungen.

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„Wir haben in den grauen Häusern gewohnt“, erzählt Alfred Schön. Das waren die Reihenhäuser, die 1935 für Heimkehrer und Obdachlose gebaut worden waren. Der Vater der Schöns, Walter, war ursprünglich aus Hamburg. Dort sollte er das „Export-Import-Unternehmen“ der Eltern übernehmen. „Aber das wollte er nicht“, sagt Schön.

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Über die Heide, wo er seine Frau Marie kennenlernte, und Hannover ging es nach Hameln. Dort lebten sie zunächst in dem Barackenlager „Brössel“, das aus dem ehemaligen Kriegsgefangenenlager hervorging, in der Nordstadt. In den 1930er Jahren ging es dann ans Hamelwehr.

War das Hamelwehr schon damals so verschrien? „Das war es von Anfang an!“, sagt Schön. „Die Leute nannten es das ,Nega-Dorf‘.“ Das sei abwertend gemeint gewesen. Die Familie Nega – die Söhne waren Alfred Schöns Freunde – war besonders kinderreich und offenbar über das Hamelwehr hinaus bekannt. „Es war ja auch ein bisschen wie ein Dorf, das passte zum öffentlichen Bild“, führt Schön aus. „Wir hatten Gärten und Ställe mit Schweinen.“ In der Schule seien sie „die Kinder vom Nega-Dorf“ gewesen. Ob das auch eine rassistische Anspielung auf „Neger“ war? „Nein“, meint Schön. „Wir kannten damals ja gar keine Schwarzen.“

Als der Kohlenzug aus dem Ruhrpott anhielt, sind wir Jungs alle rauf und haben die Kohlen von den Waggons runtergeworfen.

Alfred „Appid“ Schön

Fließend Wasser und elektrisches Licht gab es in den Häusern nicht. „Draußen haben wir Wasser gepumpt, in der Waschküche“, sagt Schön. „Erst später wurde da ’ne Wasserleitung gelegt. Elektrisches Licht hatten wir auch erst nicht, nur Petroleumlampen.“

Die Schöns aber, zumindest die Kinder, fühlten sich pudelwohl im „Nega-Dorf“. „Es war so friedlich, man musste die Tür nicht abschließen“, sagt Herta Carley. „Es gab einen super Zusammenhalt! Es wurde nichts geklaut oder kaputt gemacht. Und draußen gab es Musik, und wir haben getanzt.“ Etwas gestört worden sei der Hausfriede erst, als Anfang der 50er Jahre die Baracken dazukamen, erinnert sich Alfred Schön. Mehr Leute, mehr Probleme. Aber nicht groß der Rede wert.

Doch bis auf Weiteres war das Verhältnis der Schöns zu ihren Nachbarn gut. Sehr gut sogar. So sehr, dass Vater Schön eines Tages zu der Frau vom Nachbarhaus zog – und deren Mann zu den Schöns. Ohne viel Aufhebens. „Wir waren ja Nachbarn und somit weiterhin zusammen“, erzählt Schön.

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Während der Reichserntedankfeste sei die Ohsener Straße, die auf der anderen Seite des Bahndamms am Hamelwehr vorbeiführte, bis hin zum Festplatz auf dem Bückeberg voller Stände gewesen. Die Schöns hätten zwar nicht daran teilgenommen. Aber davon mitbekommen. „Wir haben Hitler über Lautsprecher bis zum Hamelwehr gehört“, sagt der 83-Jährige. „Ganz Hameln war braun.“ Braun? „Na, voller Uniformen!“

Als während des Krieges die Lebensmittel knapp wurden, wussten sich die Menschen am Hamelwehr zu helfen. Von klein auf. „Appid“ war zu der Zeit etwa elf Jahre alt. „Ein Freund und ich haben damals die Züge angehalten, indem wir die Bahnsignale blockierten“, erinnert er sich. „Als der Kohlenzug aus dem Ruhrpott anhielt, sind wir Jungs alle rauf und haben die Kohlen von den Waggons runtergeworfen.“ Die Mädchen sammelten sie ein. „Als die Bahnpolizei kam, waren wir schon längst fertig“, erzählt Schön und lacht. „Und wir Mädchen waren im Wald und haben Bucheckern gesammelt“, erzählt Karola Langner. „Daraus hat unsere Mutter Öl gemacht.“ Und Herta Carley weiß noch, wie sie an der Ohsener Straße Äpfel pflückten. „Unsere Mutter hat dann die Äpfel gekocht, und das Mus haben wir aufs Brot geschmiert.“ Ihr Vater arbeitete in der Wesermühle. „Deshalb hatten wir während des Krieges immer etwas Mehl“, so Schön.

Von 1941 an gab es ständig Fliegeralarme. „Bei Fliegeralarm sind wir in den Luftschutzbunker, mit Flachdach“, schildert Langner. 1938 war eine zusätzliche „Obdachlosenunterkunft“ gebaut worden und mit ihr ein Luftschutzkeller für alle Bewohner des Hamelwehrs. „Hinter den Häusern, bei den Gärten, gab es noch zwei Splitter-Erdbunker“, erinnert sich Schön. „Die waren immer feucht. Da standen Holzbanken drin.“ Manchmal seien sie auch in ein nahes Waldstück geflüchtet. Alte Luftaufnahmen zeugen von Bombeneinschlägen ganz in der Nähe des Hamelwehrs.

In dieser Zeit hört Alfred Schön auch davon, wie Willi Nega, der Kopf der Großfamilie Nega, eines Tages von den Nazis abgeholt wurde. Er kehrte nie wieder zurück. Zeuge wird er, wie der „alte Hitzmann“ abgeholt wurde. „Da kam die ,Grüne Minna‘ (ein Polizeiauto; Anm. d. Red.) mit vier Polizisten. Der Hitzmann war taubstumm, galt als … Wie haben die das damals genannt? Schrecklich. Er kam nie wieder zurück“, sagt Schön. „Den Ocker, Oskar Bauer, wollten sie auch abholen. Der hatte immer so Aussetzer, wurde aggressiv. Ich weiß noch, wie die Grüne Minna kam, ihn abzuholen, und wie er sich gewehrt hat. Der hatte sich unten am Auto festgeklammert! Da haben sie irgendwann aufgegeben.“

Die Schöns selbst sind damals noch Kinder und von dem Naziterror nicht betroffen. Ihre Erinnerungen ans Hamelwehr werden durch die Kriegserlebnisse daher kaum getrübt. „Das war unsere schönste Zeit!“, sagen die Schwestern einvernehmlich. Bis in die 50er Jahre lebten sie am Hamelwehr, ihre Mutter noch länger.

„Ich würde sofort wieder hinziehen“, sagt Schön. „So viel Freiheit und so viel Schönes für Kinder.“ Und seine Schwester Karola Langner merkt noch an: „Wenn es so etwas für die Flüchtlinge heute gäbe, mit ihren Kindern, das wäre schön.“

DEWEZET

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