Die unerzählte Geschichte der Familie Weiß
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/7B4Z6YZFBF2ZZC3E2BFAZZ3ZEZ.jpg)
Reilo Weiß (4. v. li.) mit seiner Familie vor ihrem Wohnwagen in Uslar. Foto: Reilo Weiß/pr
Familie Weiß ist in Hameln ein Begriff. Fast jeder hat von ihr gehört. Fast jeder hat eine Meinung über sie. Häufig ist sie negativ – selbst wenn es keinerlei Berührungspunkte mit der Sinti-Familie gibt. In der Serie „Familie Weiß – Sinti in Hameln“ beleuchtet die Dewezet Geschichte und Gegenwart der Hamelner Sinti, stellt Vorurteile auf den Prüfstand und lässt die Angehörigen dieser staatlich anerkannten nationalen Minderheit selbst zu Wort kommen.
Heinrich Weiß muss Hameln in guter Erinnerung gehabt haben. Warum sonst hätte er 1954 nach Jahrzehnten der Abwesenheit hierher zurückkehren sollen? Über 40 Jahre zuvor war Weiß in Hameln als Soldat stationiert gewesen. Damals war er ein junger Mann, um die 20 Jahre alt. Von 1910 bis 1912 diente er im deutschen Heer des Kaiserreichs. Vielleicht hatte Heinrich Weiß, ein Händler, schon damals ein paar Geschäftskontakte in Hameln geknüpft. Vielleicht hatte er hier auch einfach nur eine gute Zeit. Der Erste Weltkrieg stand erst noch bevor, von der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten ganz zu schweigen. Er sprach später viel von seiner Soldatenzeit in Hameln. „Da war er stolz drauf“, sagt Schwiegertochter Bluma Weiß (88) über den vielleicht ersten Sinto in Hameln.
Es ist der 25. Februar 1954, als Heinrich Weiß im Alter von 62 Jahren mit seiner Frau Berta nach Hameln zurückkehrt. Zu sechst beziehen sie mit vier hölzernen Wohnwagen zunächst den Platz Am Frettholz (heute: Tönebönplatz) in der Südstadt. Nicht als Zwischenstation. Sie wollen bleiben.
Infobox
Mit ihrer abweisenden Haltung den Sinti gegenüber war die Stadt Hameln in den 1950er und -60er Jahren nicht allein. „In fast allen Städten und Gemeinden wurde ohne einen Hauch von Schuldbewusstsein, aber mit enormer Aggressivität gegenüber den Überlebenden die ganze Bandbreite antiziganistischer Stereotype öffentlich vorgebracht“, schreibt die Historikerin Karola Fings in ihrem Buch „Sinti und Roma“ (2016). Verwaltungsbeamte und Polizisten, die schon vor 1945 die Verfolgung organisiert hatten, setzten alles daran, „ihre Gemeinde weiterhin ,zigeunerfrei‘ zu halten“. In Hameln waren unter anderem Stadtrat Dr. Hans Krüger und Vermessungsrat Gerhard Reiche mit der Sinti-Familie Weiß betraut. In der Nazizeit hatte sich Krüger um die Bearbeitung der „Judensachen“ gekümmert, Reiche um die Einweisung der Juden in die „Judenhäuser“. Die Kölner Auschwitz-Überlebende Sintezza Philomena Franz bezeichnet die Nachkriegszeit in ihrem Buch „Zwischen Liebe und Hass“ (1992) noch als relativ unbeschwert. „Niemand habe gefragt: Bist du Zigeuner?“ Doch nach der Währungsreform „entstanden wieder die besonderen Formen der Macht in der Gesellschaft und damit wuchs die Diskriminierung“.pk
Wo sonst sollen sie auch hin? Heinrich Weiß ist anerkannter Ostflüchtling. Infolge der sowjetischen Besetzung Ostdeutschlands hat er sein Grundstück in Nordhausen verlassen. An Hameln denkt er gern zurück. Also zieht er mit Zwischenstopps in Göttingen, Hamburg und Bremen nach Hameln. Doch bei der Stadt Hameln stößt er auf wenig Gegenliebe, wie aus den mehrere Hundert Seiten umfassenden Verwaltungsakten des Stadtarchivs zur „Sippe Weiß“ hervorgeht.
Die hätte es am liebsten, wenn die Sinti gar nicht erst nach Hameln gekommen wären. Zum einen ist der Wohnraum in Hameln knapp. Die Weserstadt steht, wie viele andere Städte in der Nachkriegszeit auch, vor der Herausforderung, Tausende Flüchtlinge unterzubringen. Zum anderen sitzen die Vorurteile gegenüber „Zigeunern“, wie die Sinti damals noch von der Mehrheitsgesellschaft genannt werden, nach wie vor tief. Dass die Sinti von den Nazis wenige Jahre zuvor noch als „minderwertige Rasse“ entrechtet, verfolgt und ermordet worden waren, hat auf die Haltung der Stadtverwaltung den Sinti gegenüber keinerlei Einfluss. Im Gegenteil: Die Angaben einzelner Angehöriger von Heinrich Weiß, von den Nazis verfolgt worden zu sein, werden von der Stadt in den folgenden Jahren wiederholt angezweifelt.
Am Frettholz darf die Familie Weiß jedenfalls nicht bleiben. Das Ordnungsamt weist ihr einen Platz an der „Löhner Eisenbahn“ in der Nähe des Reherkamps zu. Im Oktober zieht Heinrich Weiß mit seiner Familie um, pachtet ein zwischen der alten Ohrschen Landstraße und der Bundesstraße 83 gelegenes Grundstück des Gastwirts Friedrich Grupe. Doch auf Druck der Stadt löst Grupe die Vereinbarung mit Weiß wieder auf. Offensichtlich hat die Stadtverwaltung nicht nur ein Problem damit, dass die Sinti mit ihren Wohnwagen in Hameln irgendwelche Plätze beziehen, sondern dass sie überhaupt in der Stadt sind.
Deshalb schreibt Heinrich Weiß am 10. November 1954 an die Verwaltung: „Ich bin genauso deutscher Staatsbürger wie jeder andere. Nach dem Grundgesetz ist mir die freie Wahl für die Bestimmung meines Wohnsitzes überlassen. Wenn schon von einer Ausweisung gesprochen wird, so ist dieses bei mir fehl am Platze. Ich bin weder (als) Zigeuner noch als landfremdes Volk anzusehen, sodass die Androhung einer Ausweisung als Missgriff in die Rechte eines deutschen Staatsbürgers gilt, den ich mir unter keinen Umständen gefallen lassen werde. (...) Wenn die Stadt Hameln nicht in der Lage ist, für mich eine menschenwürdige Unterkunft zu schaffen, so bin ich lediglich auf Selbsthilfe angewiesen und werde mir dieses Recht, mir meinen Wohnsitz zu suchen und zu behalten, auch nicht streitig machen lassen.“
Die Weiß, durch Kinder und nachgezogene Verwandtschaft zu einer Sippe von 20 Personen angewachsen, rücken von dem Privatgrundstück auf das angrenzende städtische Gelände. Heinrich Weiß erhebt beim Landesverwaltungsgericht Hannover Klage gegen die Stadt Hameln. Das Gericht schlägt der Stadt vor, „den Streit dadurch zu bereinigen, dass der Sippe Weiß ein Platz angewiesen wird“.
Die Stadt erklärt, über keine freien Grundstücke zu verfügen. Versuche, mit Privateigentümern übereinzukommen, würden spätestens dann scheitern, wenn sie erfahren, dass ihr Grundstück von „Zigeunern“ bewohnt werden soll. Also bleiben die Sinti zunächst an der Ohrschen Landstraße. Zum Ärger der Öffentlichkeit. „Keine schöne Visitenkarte für unsere Stadt“, ist im Juni 1955 in der Dewezet zu lesen.
Infobox
Der Ursprung von Sinti und Roma liegt im Norden Indiens. Von dort aus zogen sie vor rund 1000 Jahren über Persien, Kleinasien, Armenien, Griechenland und den Balkan nach Europa und Amerika. Es war die Not, resultierend aus Krieg, Verfolgung oder wirtschaftlichem Elend, die sie immer wieder zu Ortswechseln zwang. Der erste Vermerk über die Anwesenheit von Roma bzw. Sinti, genannt „Tatern“, in Deutschland befindet sich in den „Hildesheimer Stadtrechnungen“ von 1407. Für viele Sinti gilt dieses Datum als Ausgangspunkt ihrer jahrhundertelangen Geschichte in Deutschland, der ihnen auch zur Identifikation mit ihrem Heimatland dient. Im 15. Jahrhundert wurden Sinti zu „Vogelfreien“, also Rechtlosen, erklärt. Dadurch waren sie abermals gezwungen, öfter ihren Aufenthaltsort zu wechseln. Mit Verbesserung ihrer Rechtslage wurden Sinti bis Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend sesshaft. Doch die Vorurteile, der Antiziganismus, bestand fort. Er gipfelte in dem Völkermord der Nazis, dem rund 500 000 Sinti und Roma zum Opfer fielen. Heute leben etwa zwölf Millionen Sinti und Roma in Europa, davon etwa 80 000 bis 120 000, überwiegend deutsche Sinti, in Deutschland. In Hameln leben schätzungsweise 300 deutsche Sinti. pk
Zwei Jahre lang geht es hin und her zwischen der Stadt, der Sippe Weiß und dem Landesverwaltungsgericht, städtische Verfügungen und Einsprüche gegen dieselben wechseln einander ab. Die Stadt wirft den Sinti vor, auf Kosten der Allgemeinheit leben zu wollen. Sie seien schmutzig, verrichteten ihre Notdurft im Freien, zögen den Ärger von Anwohnern auf sich und belästigten Passanten. Ihre Lebensweise locke Ungeziefer an, die das Lager zu einem „Seuchenherd“ mache. Die Beschreibung der Sinti-Lager variiert jedoch von einem Besuch des Ordnungsamtes zum anderen. Mal ist von größter Unordnung und Dreck die Rede – mal ist alles in bester Ordnung.
Durch die Verfolgung während des Nationalsozialismus wurde die Schulbildung vieler Sinti jäh unterbrochen, die Existenzgrundlage der Erwachsenen zerstört. Viele Sippenmitglieder sind auf Fürsorge, also Sozialhilfe angewiesen. Fast alle verfügen aber auch über Wandergewerbescheine und betätigen sich – vor allem in den Sommermonaten – als Händler, Hilfsarbeiter oder gehen hausieren. Doch das Geschäft ist hart. Mit der Fürsorge wird das kärgliche Einkommen aufgestockt.
Die Stadt will, dass die Sinti entweder weiterziehen oder ihre Wohnwagen aufgeben. Doch die Wohnwagen sind ihr Zuhause, mit dem sie ihren Geschäften nachgehen. Außerdem will die Großfamilie zusammenbleiben. Die Option eines Barackenbaus, wie von den Sinti wiederholt vorgeschlagen, kommt für die Stadt nicht in Frage, weil dann mit dem Zuzug „weiterer Zigeuner“ gerechnet werden müsse, wie Stadtdirektor Johannes Wagner später an die Stadt Uslar schreiben wird. Damit ist klar, dass Sinti in Hameln damals generell unerwünscht sind.
Anfang 1957 entscheidet der Rat schließlich, einen offiziellen Stellplatz für die Wohnwagen der Sinti anzulegen, samt Stromanschluss, Wasserversorgung und Plumpsklos. Um die 10 000 Mark kostet der Platz, der formal nicht nur Sinti, sondern allen Reisenden zur Verfügung stehen soll. Die Sache hat nur einen Haken: Der Platz befindet sich direkt neben der Kläranlage an der Fischbecker Landstraße.
Die Sinti rechnen mit Geruchsbelästigung, zudem ist das östlich der Kläranlage gelegene Gelände schutzlos dem Westwind ausgesetzt. Die Sippe weigert sich, den Platz zu beziehen. In der Konsequenz wird der Platz an der Ohrschen Landstraße im Mai ’57 zwangsgeräumt, die Sippe an die Fischbecker Landstraße umgesiedelt. In der Folge beginnt für die Sinti abermals ein Hin und Her: zwischen Kläranlage, Frettholz und dem Rettigs Grund.
Hugo Steinbach (86), ein Schwiegersohn von Heinrich Weiß, erinnert sich: „An der Kläranlage hat es immer gestunken“, sagt er. „Ich hatte gerade ein Mädchen bekommen, es war erst wenige Wochen alt. Ihr ganzes Gesicht war voller dicker Fliegen, den blauen. Also habe ich ein Dreirad genommen, habe unseren Wohnwagen angespannt und bin zum Rettigs Grund umgezogen. Dort haben wir dann ein paar Baracken gebaut.“ Der Rettigs Grund befindet sich am Waldrand in der damals noch dünn besiedelten Nordstadt. Der Weg liegt zwischen dem Militärgelände der britischen Alliierten und der Kleingartenkolonie „Am Heideweg“.
Die Sinti sind mit ihrer Meinung über den Platz an der Kläranlage nicht alleine. „Es ist kein guter Platz“, befindet damals auch die Dewezet. Es stinke, das ungeschützte Gelände sei zugig, die Straße für Schulkinder gefährlich. „,Wir sind doch auch Menschen, auch Deutsche und Hamelner Bürger‘“, zitiert die Dewezet einen namentlich nicht genannten Sinto. „,Warum behandelt man uns so, was haben wir getan?‘“
Infobox
Aus Mitgefühl machte sich Joachim von Kauffmanns mit etwa 17 Jahren auf den Weg zu den Sinti am Rettigs Grund. Durch eine Freundin war er Zeuge geworden, wie sich Stadtdirektor Wagner abfällig über „die Zigeuner“ äußerte. „Da wollte ich ihnen etwas Gutes tun“, sagt der heute 77-Jährige. Also besorgte er ein paar Zigarren, ging zum Rettigs Grund und verschenkte sie an die Sinti. Magdalena von Weyhe (86) vom Fischerhof bekam wegen der räumlichen Nähe viel von den Sinti am Rettigs Grund mit. „Auf dem Weg zu unseren Feldern kamen wir dort immer vorbei“, erzählt sie. „Mein Vater sprach dann mit den Männern, und da kamen dann alle Kinder angelaufen und umringten ihn.“ Umgekehrt kamen die Kinder auf dem Weg zur Schule am Fischerhof vorbei und fragten von Weyhe nach der Uhrzeit. Als junger Mann lieferte Postbote Hans-Joachim Krakowski (73) den Sinti am Rettigs Grund das Geld vom Amt aus. Noch heute schwärmt er von der Innenausstattung des Wohnwagens von Sippensprecher Heinrich Weiß, den Teppichen, dem geräumigen Wohnzimmer. „Wenn ich kam, hat der Zigeunerbaron einmal gepfiffen“, erzählt er. „Dann stellten sich alle in einer Reihe auf, und er verteilte das Geld.“pk
Ärztliche Atteste, die Angehörige der Familie Weiß bei der Stadt vorlegen und belegen sollen, dass dieser Platz ihnen aus gesundheitlichen Gründen nicht zugemutet werden darf, erkennt die Stadt nicht an. Maßgeblich sind für sie einzig und allein die Gutachten des städtischen Gesundheitsamtes – und dies hat keine gesundheitlichen Bedenken. Erneut klagt Weiß, erneut wird die Klage von Theanolte Bähnisch, der Regierungspräsidentin in Hannover, abgewiesen.
Es stellt sich heraus, dass das Grundstück am Rettigs Grund nicht der Stadt, sondern der Bundesvermögensstelle (heute: Bundesanstalt für Immobilienaufgaben) gehört. Auch sie untersagt die Nutzung des Grundstücks als Wohnwagenplatz, wird aber nicht selbst tätig. Die Stadt drängt darauf, dass die Sippe zur Kläranlage zurückkehrt. Doch die Weiß’ weigern sich.
Am 10. April 1958 richtet sich Heinrich Weiß deshalb mit einem Brief Hilfe suchend an Bundeskanzler Adenauer, bittet um einen „geeigneten, gesunden Platz“ oder „eine Baracke“, da „unsere Wohnwagen zum Teil nicht mehr als solche benutzt werden können“ und sie langfristig sowieso auf feste Unterkünfte angewiesen sein würden. Eine Antwort erhält Weiß von der Regierungspräsidentin. Sie teilt mit, die Angelegenheit an die Stadt Hameln zurückgegeben zu haben.
Deutliche Worte zum Platz an der Kläranlage findet am 19. April 1958 die Hannoversche Presse (HP): „Das Ganze macht den Eindruck eines Miniatur-Konzentrationslagers. Und davon haben die ,Insassen‘, von denen einige fünf Jahre lang die ,echten‘ KZs kennengelernt haben, wahrlich genug.“ Dazu Ratten und der Gestank der Kläranlage. „Nur der Wachturm fehlt“, so die HP.
Kurz vor Weihnachten 1958 kommt man bei der Stadtverwaltung zu dem Schluss, die Sinti am Rettigs Grund fortan zumindest zu dulden, „um in der ganzen Angelegenheit endgültig Ruhe eintreten zu lassen“, wie Stadtdirektor Wagner in einem Gespräch mit Regierungsrat Müller von der Bundesvermögensstelle erklärt. Unterdessen verfallen die Wohnwagen, ein gutes Dutzend, zusehends, leiden die selbst gebauten Baracken unter der Feuchtigkeit. Mögliche Reparaturen, eine Wasserleitung und Toiletten sind zwar im Gespräch, werden aber nur teilweise umgesetzt.
Im März 1962 klagt der britische Platzkommandant über den Zustand des Sinti-Lagers. Doch mangels alternativer Plätze und weil man sich mit dem Lager im Rettigs Grund inzwischen weitgehend arrangiert hat, hält die Stadt die Briten hin.
Im Januar 1963 erklärt Stadtdirektor Wagner im Rat der Stadt zum Lager am Rettigs Grund: „Wolle man sie (die Sinti; Anm. d. Red.) hier vertreiben, würden sie sich auf das Stadtgebiet verteilen, und es sei sehr schwierig, sie dann wieder auf einen Sammelplatz zwangsweise umzuquartieren.“ Noch deutlicher wird Wagners ablehnende Haltung den Sinti gegenüber am 8. April in einer Anweisung an das Ordnungsamt: „Jedem neuen Besucher der Sippe Weiß ist sofort klar zu machen, dass er hier nicht bleiben kann, sondern wieder weiterziehen muss.“
Im Sommer ’63 erklärt der britische Major Lambert, dass die Sinti unter keinen Umständen länger im Rettigs Grund bleiben können, weil das Gelände für eigene Zwecke benötigt werde.
Derweil ist der nunmehr 72-jährige Heinrich Weiß, Vater von zehn Kindern, schwer erkrankt. Im Sommer liegt er im Sterben. Am 5. September wird er auf dem Friedhof Wehl beerdigt. Mehrere Hundert Sinti aus ganz Deutschland erscheinen zur Trauerfeier.
Knapp ein Jahr später, im Sommer 1964, beschließt die Verwaltung auf Druck der Briten, die Sinti in die Sozialbausiedlung „Hamelwehr“ am Rande der Südstadt umzusiedeln. Ende November zieht die auf knapp 60 Personen angewachsene Sippe Weiß – nach anfänglichen Bedenken – vom Rettigs Grund ans Hamelwehr. Ein paar nehmen ihre Wohnwagen mit. Der zehn Jahre lang schwelende Konflikt zwischen der Stadt und der Familie Weiß hat ein Ende.
Der 1964 ins Amt gewählte Stadtdirektor und spätere niedersächsische Innenminister Rötger Groß (FDP) will sodann einen Schlussstrich unter die „Zigeuner-Sache“ ziehen. Am 1. Februar 1965 schreibt er an Major Lambert: Der Platz am Rettigs Grund müsse von den Briten jetzt noch eingezäunt und verschlossen werden, damit, so die Begründung, „keine weiteren Zigeuner dort mehr hinkommen können“.
Lesen Sie in der Zeitung am Mittwoch, 30. August, den nächsten Teil der Serie: Wie aus Vorurteilen Feindbilder werden.
Eine Multimediapräsentation sowie alle Serienteile finden sich auf www.dewezet.de in den Rubriken „Multimedia-Storys“ und „Themendossiers“.
Infobox
In der Wissenschaft stellen Sinti – wie die Kalderasch, Lowara und etliche andere – eine von vielen Untergruppen der Roma dar. So hält es auch der „Zentralrat der Sinti und Roma“, die größte Interessenvertretung von Sinti und Roma in Deutschland. Einige Sinti lehnen den Oberbegriff „Roma“ jedoch ab. Zwar hätten Sinti und Roma vielleicht einen gemeinsamen Ursprung. Allerdings hätten sich deutsche Sinti und Roma aus Ost- und Südosteuropa inzwischen kulturell und sprachlich so weit voneinander entfernt, dass die Unterschiede größer seien als die Gemeinsamkeiten, so die Argumentation. Die in Deutschland seit Ende des 18. Jahrhunderts überlieferte Selbstbezeichnung lautet Sinti. Beheimatet sind Sinti auch in Polen, den Niederlanden, in Belgien, Norditalien und, dort „Manouches“ genannt, in Frankreich. Der Begriff „Zigeuner“ hingegen ist eine rassistisch geprägte Fremdbezeichnung, die von vielen Sinti abgelehnt wird. Sinti und Roma sind in Deutschland als nationale Minderheit anerkannt. Das heißt: Sie sind deutsche Staatsangehörige, die sich von der Mehrheitsbevölkerung durch eine eigene Sprache, Kultur und Geschichte unterscheiden. Die Anerkennung als Minderheit bedeutet für sie einen staatlichen Schutz.pk
DEWEZET