Wie der US-Protestsänger Oliver Anthony zum neuen Helden der Armen wurde
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Vor sechs Wochen noch ein Unbekannter: Der Country- und Folksänger Oliver Anthony aus Virginia singt auf seinem Nummer-eins-Hit „Rich Men North of Richmond“ über die Situation der armen Leute in Amerika und die Ignoranz der Politiker. Jetzt sorgte er mit einer unerwarteten Entscheidung dafür, dass auch weniger gut Betuchte seine Shows erleben können.
© Quelle: picture alliance / abaca
„Cotton-Eyed Joe ist abgesagt“, schrieb Oliver Anthony am Dienstag (12. September) bei Facebook. Schuld an seinem gecancelten Konzert sei er im Grunde selbst. „Mein Teller war voll“, erwähnte er seine derzeitige Überforderung mit der Selbstorganisation, „ich habe jemandem anderen die Verantwortung dafür abgegeben, mir beim Buchen (von Konzerten) zu helfen.“
Wir werden einen anderen Ort in Knoxville und Umgebung finden, der mit 25 Dollar pro Ticket klarkommt und mit einem kostenlosen Meet and greet.
Oliver Anthony,
amerikanischer Country- und Folksänger
Für den Gig am 27. September im Traditionsclub Cotton-Eyed Joe in Knoxville, Tennessee waren dann Tickets zum Preis von 99 Dollar angeboten worden. Meet-and-greet-Tickets, also Konzertkarten mit garantiertem Starkontakt für Selfies oder Autogramme, gingen sogar für stolze 199 Dollar über den Tresen. Der Künstler zog die Reißleine und versprach: „Das wird nie wieder geschehen.“ Er wolle dem Publikum die bereits gelösten Tickets notfalls von seinem eigenen Konto zurückerstatten. Und: „Wir werden einen anderen Ort in Knoxville und Umgebung finden, der mit 25 Dollar pro Ticket klarkommt und mit einem kostenlosen Meet and greet.“
Schon am Tag zuvor hatte Anthony sich für die Kartenpreise entschuldigt und seine Fans aufgefordert: „Bitte zahlt nicht 90 Dollar für ein Ticket.“ Damit, dass er seinen Worten umgehend Taten folgen ließ, wurde er schon ein zweites Mal binnen weniger Wochen zum Rock-’n’-Roll-Helden des einfachen Mannes. Salz rieb er in eine zuletzt übel schwärende Wunde der Unterhaltungsindustrie – überteuerte Preise für Liveauftritte. Begründet wird diese zuletzt rasante Entwicklung allgemein damit, dass die Verdienstmöglichkeiten für Künstlerinnen, Künstler und Bands durch die Musik selbst, sei es durch Tonträger oder Streamingdateien, nahezu weggebrochen seien.
„Dynamic Pricing“ - Springsteen sehen für mehr als 1000 Euro
Zuletzt geriet der Kartenhändler Ticketmaster in die Kritik, als er im Vorverkauf ein besonders perfides, dynamisches, nachfragegesteuertes Preissystem einsetzte. „Dynamic Pricing“ schaffte es beispielsweise, ein mit umgerechnet 400 Euro Regulärpreis eh überteuertes Ticket für den Auftritt von Bruce Springsteen im Madison Square Garden am 1. April, in den Sekunden zwischen dem Anklicken bis zum Verschaffen in den Warenkorb auf 1200 Euro schnellen zu lassen. Legal und ganz offiziell, wie RND-Redakteur Mathias Begalke in einer Reportage erklärte.
Der eigentlich als Rock’n’Roller für jedermann bekannte Springsteen wird auf diesem Weg – es gab laut Musikfachzeitschrift „Rolling Stone“ Karten für bis zu 5000 Dollar – zum Elitärkünstler für Gutverdienende. Und argumentiert, er habe all die Jahre unter Marktwert Karten verkauft, und jetzt sei auch mal genug mit günstig. „Dieses Mal habe ich meinen Leuten gesagt: ‚Hey, wir sind 73 Jahre alt. (…) Ich will das tun, was meine Kolleginnen und Kollegen auch tun.‘ Und genau das ist passiert. Das haben wir getan.“
Ein seit mehr als 40 Jahren existierendes Springsteen-Fanzine stellte daraufhin sein Erscheinen ein. Früher wurden derart räuberisch anmutenden Preissteigerungen nur via Weiterverkauf von Karten auf dem Schwarzmarkt erzielt. Das Versprechen der Rockmusik, für alle da zu sein, wird von der Angebotsseite gebrochen.
Auch bei Oliver Anthony hatten sich wegen des Cotton-Eyed-Joe-Konzerte Fans gemeldet, denen 100 Dollar pro Karte schlichtweg zu viel waren, und die den Preis auch nicht nachvollziehen konnten, schließlich sei der Aufwand für den Auftritt ja überschaubar, stehe da ja nur „ein Mann mit Gitarre an der Bar“. Mit dem enormen Produktionsaufwand für riesige Stadion-Open-Airs und Hallenkonzerte wurden schon in Prä-Ticketmaster-Zeiten astronomische Kartenpreise für Mega-Acts von Rolling Stones bis Madonna begründet.
Mann aus dem Nichts – der Senkrechtstart des Oliver Anthony
Oliver Anthony alias Oliver Anthony Music ist ein wirklich brandneuer Name im Biz. Ein Senkrechtstarter im wahrsten Wortsinn. So wenig ist über den rotbärtigen Christopher Anthony Lunsford (so sein bürgerlicher Name) aus dem 7500-Seelen-Städtchen Farmville, Virginia, bekannt, dass die Angaben über sein Geburtsjahr alternieren – entweder war’s 1991 oder 1992. Die deutsche Wikipedia-Website gibt unter dem Geburtssternchen sogar – kein Witz – „20. Jahrhundert“ an.
Die Branchenwebsite „Deadline“ skizziert den Künstler in ihrem ersten Anthony-Text vom 19. August 2023 als „Highschool-Abbrecher, der in einem Trailer lebt und lukrative Angebote aus dem Mainstream-Lager ausgeschlagen“ habe. Der Künstlername sei der Name des Großvaters und – so der Sänger selbst – „nicht nur eine Widmung an ihn, sondern an die Appalachen der 30er-Jahre, wo er geboren und aufgewachsen ist. Schmutzboden, sieben Kinder, schwere Zeiten.“
Ein sprödes Stück mit Gesang und Gitarre schafft den Sprung auf Platz eins
Mit seiner im August veröffentlichten Single „Rich Men North of Richmond“ hatte Anthony – nach dem jeweils ersten Platz in den Apple-Spotify- und iTunes-Charts – für ein Novum in den altehrwürdigen Billboard-Charts gesorgt. Anthony war der erste Künstler, der es ohne vorherige Berührung mit der seit 1958 bestehenden US-Hitparade auf den ersten Platz schaffte.
Dort blieb der Song – ein eher sprödes Stück aus Gesang und Gretsch-Steel-Guitar-Sound – zwei Wochen, sank dann auf Platz sechs und in dieser Woche elf, könnte aber laut Analysten durch des Sängers Eintreten für gemäßigte Ticketpreise ein weiteres Mal an die Spitze schnellen. Protestsongs sind dabei traditionell keine Chartsstürmer, selbst heutige Klassiker wie Bob Dylans „Blowin’ in The Wind“ (1963) und sein „The Times They Are A-Changing“ (1964) hatten es bei ihrem Erscheinen nicht einmal in die US-Hot-100 geschafft.
„North of Richmond“ liegt die US-Hauptstadt Washington
Ein aufrechter Mann mit Haltung, einer emotionalen Stimme mit Countryschlucker und einem beißenden Nummer-eins-Song: Nördlich von Richmond liegt als nächste große Stadt Washington D. C., die reichen, kontrollfixierten Leute im Titel von Anthonys Song sind zweifellos das politische Establishment in der Hauptstadt. Der Ich-Erzähler von „Rich Men North of Richmond“ ist ein Arbeiter, gepeinigt durch endlose überbezahlte Überstunden, der sein Leben vergeudet sieht und der seine Sorgen im Alkohol ertränkt.
Das Amerika des Songprotagonisten ist ein Albtraum, aus dem er zu erwachen hofft. Er tritt für die Minenarbeiter (miners) im Land ein und wünscht sich, die Politiker würden sich mehr um diese kümmern als um die Minderjährigen (minors) „auf fernen Inseln“ (eine Anspilung auf Pädophilie und missbrauch. Und er sieht in den USA Hungernde auf der einen und Fettleibige (in den USA sind – Stand 2019 im Statistikportal Statista – 73,1 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner übergewichtig oder fettleibig), „die das Sozialsystem melken“, auf der anderen Seite. Im Refrain: „Dein Dollar wird endlos besteuert durch die reichen Leute nördlich von Richmond.“
In der Tradition von Woody Guthrie, vereinnahmt durch Republikaner
Die da oben gegen die da unten – Anthonys harte und kritische Gesellschaftsschau ist eigentlich eindeutig dem linken Musikspektrum zuzuordnen, steht in der Tradition des aufrichtigen politischen Folks von Woody Guthrie, Pete Seeger und Billy Bragg (der Anthony bereits einen Antwortsong schrieb, in dem Gewerkschaften als Lösung angeboten werden). Und er steht auch in der Tradition des Country eines Tennessee Ernie Ford, der in „Sixteen Tons“ 1955 die hoffnungslose Situation von Bergmännern in amerikanischen Kohlegruben besang: „I owe my soul to the company store.“
Es waren aber natürlich prompt die Republikaner, die umgehend mit der politischen Vereinnahmung des früheren Landwirtschafts- und Fabrikarbeiters Anthony begannen. In einem Video beklagte der Sänger die Deutung seines Liedes durch die Grand Old Party und durch „Fox News“ anlässlich der ersten „presidential debate“ der Republikaner in Milwaukee Ende August. Der Gouverneur von Florida und Präsidentschaftskandidat Ron DeSantis sah Anthonys politische Kritik reserviert für die Demokraten und griff unter Bezugnahme auf den Song den amtierenden Präsidenten Joe Biden an.
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In seinem Video machte der Sänger indes klar, dass sein Song „nichts mit Joe Biden zu tun hat. Das ist ein ganzes Stück größer als Joe Biden.“ Und Anthony verwies die Vereinnahmer auf republikanischer Seite auf die Anklagebank. „Dieser Song wurde über die Leute auf genau dieser Bühne geschrieben“, erklärte Anthony, „auch über eine ganze Menge andere, also nicht nur über sie – aber definitiv auch über sie.“ Er hasse es zu sehen, wie sein Song von rechts als „Waffe missbraucht“ werde.
Aber auch Kritik von links, er wende sich – etwa mit seinen Zeilen über das Problem der Fettleibigkeit in Amerika – gegen die Armen, wies Anthony zurück. Jene Lieder in seinem Portfolio, die sich auf gesellschaftliche Klassen bezögen, stünden immer auf der Seite der Armen, handelten immer von den Unzulänglichkeiten der Regierenden, sagte der Musiker.
Haben sich die Demokraten so weit von ihren Arbeiterwurzeln entfernt, dass sie reflexartig auf einen Arbeiter losgehen?
Nicholas Kristof,
Kolumnist der „New York Times“
Ausgangspunkt des Liedes sei ein Zeitungstext über Kinder in Richmond, Virginia, gewesen, deren Eltern sie nicht ausreichend ernähren konnten, „während bis zu 40 Prozent der Wohlfahrtsbezüge von den Empfängern in Fast Food und Limonaden investiert würden“. Nicholas Kristof, Kolumnist der „New York Times“, fragte am 27. August in Richtung Linke: „Echt jetzt? Haben sich die Demokraten so weit von ihren Arbeiterwurzeln entfernt, dass sie reflexartig auf einen Arbeiter losgehen, der betont, dass ‚die Leute auf der Straße nichts zu essen haben‘?“ Die BBC nannte den Song „den Hit, der die USA gespalten hat“.
Er glaube, dass sein Lied den Adressaten beider Seiten Angst eingejagt hat, sagt der Sänger, der in den vergangenen zwei Jahren 16 Songs aufgenommen hat und dessen Nummer-eins-Hit es auch in Ländern wie Kanada (Platz drei), Großbritannien (23), Irland (zehn) und Schweden (23) in die Charts schaffte – Deutschland bislang Fehlanzeige. „Sie haben alles, was sie in den letzten beiden Wochen tun konnten, getan, um mich wie einen Dummkopf aussehen zu lassen“, resümiert Anthony, „meine Worte zu verdrehen und mich in einen politischen Kübel zu stopfen. Und sie können das ruhig weiter versuchen, während ich einfach mit meinem Songschreiben weitermache.“
Wird er wohl tun. Oliver Anthony ist einer zum Beim-Wort-Nehmen. Auch was das abgesagte Konzert in Knoxville betraf, wurden im Handumdrehen Nägel mit Köpfen gemacht. Mit seinem Support Joey Davis kündigte Anthony schon am Mittwoch eine gemeinsame Ersatzshow im Knoxville Convention Center für den 29. September an. All seine Shows würden ab jetzt nur noch 25 Dollar Eintritt kosten, und alle künftigen Treffen mit Fans nach den Shows seien gratis.
Nur irgendein Idiot und seine Gitarre. Der Musikstil, von dem wir überhaupt nicht hätten wegkommen sollen.
Oliver Anthony,
Songwriter, über seine Musik
Was auf Oliver Anthony zukommt, ist ungewiss. „Ich wollte nie ein Vollzeitmusiker werden“, schrieb er am 17. August bei Facebook nach den Onlinechartserfolgen – das ist noch nicht einmal einen Monat her. „Ich will keine sechs Tourbusse, 15 Traktoranhänger und einen Jet. Ich will keine Stadionshows spielen, ich will nicht im Rampenlicht stehen. Ich habe die Musik geschrieben, die ich geschrieben habe, weil ich unter psychischen Problemen und Depressionen litt.“ Das Geheimnis seines Erfolgs, so sieht er es selbst, liegt in der Einfachheit seiner Musik. „Nur irgendein Idiot und seine Gitarre. Der Musikstil, von dem wir überhaupt nicht hätten wegkommen sollen.“
Der Ticketserver brach ob des der neuen Konzertankündigung folgenden Ansturms kurz zusammen. Ein Ortsansässiger namens Chris Mitchell merkte an: „Jetzt müssen nur noch die Bierpreise günstiger werden als die für die Tickets.“
* Anmerkung: In einer früheren Version des Textes wurde „minor“ mit „Arme“ falsch übersetzt. Die Übersetzung wurde in dieser Version mit „Minderjährige“ korrigiert