Millionen Menschen von Lieferengpässen betroffen

Arzneimittel immer noch knapp – woran liegt das?

Immer noch fehlt es an wichtigen Medikamenten für Kinder wie Antibiotika und Fiebersäften.

Immer noch fehlt es an wichtigen Medikamenten für Kinder wie Antibiotika und Fiebersäften.

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Seit Monaten fehlt es in Deutschland an Medikamenten. „Manchmal steht die Versorgung wirklich auf der Kippe“, sagte Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein am Donnerstag im ARD-„Morgenmagazin“. Nach Einschätzung des Verbands sind momentan täglich rund 1,5 Millionen Menschen in Deutschland von Lieferengpässen für bestimmte Medikamente betroffen.

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Doch welche Wirkstoffe sind besonders knapp und woran liegt das?

Die wichtigsten Fragen zu den Arzneimittelengpässen

Welche Arzneimittel sind zurzeit knapp?

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) listet zurzeit insgesamt 510 Lieferengpässe bei rezeptpflichtigen Medikamenten (Stand: 14. September 2023). Darunter sind unter anderem Schmerzmittel, Antibiotika, fiebersenkende Mittel und Krebsmedikamente. Die Meldung der Engpässe ist freiwillig.

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Auch Arzneimittel für Kinder sind noch immer knapp – wie Fiebersäfte und Antibiotika. Diese Engpässe könnten sich weiter verschärfen. „Wie in jeder Herbst-/Wintersaison werden auch in den nächsten Monaten viele Kinder erneut an Atemwegs- und anderen Infekten leiden“, erwartet die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Entsprechend hoch könnte der Bedarf an Arzneimitteln werden.

Das BfArM hat eine „Dringlichkeitsliste“ mit Kinderarzneimitteln erstellt, die in diesem Herbst und Winter „möglicherweise einer angepassten Versorgungssituation“ unterliegen. Darauf findet sich unter anderem Amoxicillin, ein Brandbandantibiotikum, das zum Beispiel bei Harnwegsinfekten und Atemwegserkrankungen eingesetzt wird. Oder Ibuprofen und Paracetamol, zwei Schmerzmittel, die Fieber senken. Oder Salbutamol, ein Medikament, das zur Behandlung von Asthma dient.

Schon Anfang April hatte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Bundesanzeiger offiziell einen Versorgungsmangel mit antibiotikahaltigen Säften für Kinder bekannt gegeben.

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Wenige Tage später hatten dann Vertreter und Vertreterinnen von europäischen Fachgesellschaften für Kinder- und Jugendmedizin einen offenen Brief an die Politik verfasst. Darin warnten sie vor den Folgen des Medikamentenmangels. Die Engpässe der letzten Monate führten dazu, „dass weder kindgerechte noch an Therapierichtlinien ausgerichtete Behandlungen“ möglich seien. Die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen werde „dadurch nachhaltig gefährdet“, hieß es weiter.

Wie problematisch die Arzneimittelengpässe werden können, hatte sich im vergangenen Winter gezeigt. Damals waren nach einer Infektionswelle Probleme bei Lieferungen von Kindermedikamenten wie unter anderem Fieber- und Hustensäften eskaliert. Eltern mussten mitunter mehrere Apotheken abklappern, um die Mittel für ihre kranken Kinder zu bekommen.

Warum bestehen die Arzneimittelengpässe fort?

Weil im vergangenen Winter besonders viele Kinder Atemwegserkrankungen wie RSV-Infektionen hatten, war die Medikamentennachfrage gestiegen. Vor allem fiebersenkende Mitteln und Antibiotika waren stark gefragt.

Schon damals nannte das BfArM den deutlich gestiegenen Bedarf, der nicht kompensiert werden könne, zum Beispiel als Grund für die gemeldeten Lieferengpässe bei Kinderantibiotika. Das Problem besteht noch immer.

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Auch Gesundheitsverbände sprechen von einem Aufholeffekt nach Corona, der die Arzneimittelknappheit forciere. Heißt: Weil Kinder durch die Corona-Maßnahmen weniger in Kontakt mit Atemwegserregern gekommen sind, infizieren sie sich nun wieder häufiger, erkranken und benötigen Medikamente. Gleiches gilt für die Erwachsenen.

Ein weiterer Grund für die Engpässe ist, dass in der Vergangenheit viele Produktionsstätten nach Indien und China abgewandert sind. Das ist jedoch nicht unproblematisch: „Explodiert eine Fabrik in China, gibt es auf einmal den Arzneistoff nicht mehr, so geschehen vor einigen Jahren im Fall von Piperacillin“, sagte Ulrike Holzgrabe, Seniorprofessorin für pharmazeutische und medizinische Chemie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. „Selbst wenn es noch andere Fabriken für den Arzneistoff geben sollte, sind diese meist nicht in der Lage, die fehlende Produktion zu übernehmen.“

Die Lieferketten seien nicht mehr resilient, so Holzgrabe weiter. Das zeigt sich nun auch beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Er führt zu unterbrochenen Lieferketten – für die Medikamente und auch deren Verpackungen.

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„Lieferengpässe können allgemein ganz unterschiedliche Ursachen haben“, heißt es vom BfArM. Zum Beispiel Produktionsprobleme, „wenn Herstellungsprozesse aufgrund von Qualitätsproblemen umgestellt werden, Ware nicht freigegeben werden kann oder wegen einer gestiegenen Nachfrage die Kapazitäten erhöht werden müssen“. Auch wenn nur wenige Hersteller über einen bestimmten Wirkstoff oder ein bestimmtes Zwischenprodukt verfügen, ist das Risiko, dass es zu einem Versorgungsengpass kommt, erhöht.

Welche Ausweichmöglichkeiten gibt es, wenn ein Medikament fehlt?

Bei Fiebersäften für Kinder gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, auf andere Darreichungsformen wie Zäpfchen oder Tabletten auszuweichen. Viele Apotheken haben wegen der Lieferengpässe auch damit begonnen, selbst Fiebersäfte für Kinder herzustellen.

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Diese Säfte haben die gleiche Qualität und enthalten die gleichen Wirkstoffe wie Fertigpräparate. Es kann allerdings sein, dass sie wegen ihres anderen Geschmacks von den Kindern schlechter angenommen werden.

ILLUSTRATION - Die Kerbe in der Tablette lädt dazu ein, sie zu teilen. Doch für die Wirkung des Medikaments ist das nicht immer gut. Foto: Franziska Gabbert/dpa-tmn - Honorarfrei nur für Bezieher des dpa-Themendienstes +++ dpa-Themendienst +++

Medikamentennotstand: Ärzte rechnen mit „noch schlimmeren Engpässen“ im Herbst und Winter

Deutschland dürften im Herbst erneut Medikamente fehlen. Die Engpässe dürften sogar noch stärker als im vergangenen Jahr ausfallen – damit rechnen Ärzte und Apotheker. Auch das Lieferengpassgesetz kann diese Entwicklung noch nicht abfedern. Die Gründe sind vielseitig.

Doch nicht alle fehlenden Medikamente lassen sich so leicht ersetzen. Im Gegenteil: Bei Antibiotika mangelt es oftmals an gleichwertigen Alternativen. Wenn das für ein Kind am besten geeignete Antibiotikum nicht verfügbar ist, muss laut Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) zu einem Antibiotikum der zweiten und dritten Wahl gegriffen werden, das aber schlechter wirkt und das Risiko für sich bildende Antibiotikaresistenzen erhöht.

Welche Maßnahmen wurden eingeleitet?

Als Reaktion auf die Lieferengpässe im vergangenen Jahr hatten die Bundesländer mehr Spielraum beim Import von Medikamenten aus dem Ausland bekommen. Sie konnten bei Kinderantibiotika zum Beispiel auch die Einfuhr größerer Mengen von Medikamenten erlauben, die in Deutschland nicht zugelassen sind.

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„Die erleichterten Importbedingungen waren gut und haben uns zumindest rechtlich aus dem Graubereich geholt“, sagte Torsten Hoppe-Tichy, Leiter der Klinikapotheke am Universitätsklinikum Heidelberg, rückblickend.

Die Bundesregierung hatte im Juni dieses Jahres dann das „Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln und zur Verbesserung der Versorgung mit Kinderarzneimitteln“ (ALBVVG) beschlossen. Es sieht beispielsweise vor, bei Kindermedikamenten Fest- und Rabattverträge abzuschaffen.

Pharmafirmen können dadurch ihre Preise erhöhen und die Medikamente müssen trotzdem von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Dadurch will es Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) für die Konzerne attraktiver machen, Kinderarzneimittel auf dem deutschen Markt anzubieten.

Außerdem macht das Gesetz als Sicherheitspuffer Vorräte von mehreren Monatsmengen für vielgenutzte Mittel zur Pflicht. Allein die Umsetzung sei allerdings „quasi unmöglich“, merkte Holzgrabe an. „Wo sollen die Antibiotika und Schmerz- beziehungsweise Fiebermittel herkommen, die in die Lager gelegt werden sollen?“

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Die Produktion sei weltweit am Anschlag, nur wenige Hersteller könnten mehr produzieren. „Die Alternative ist, anderen Ländern die Ware vor der Nase ‚wegzuschnappen‘“, sagte die Pharmazieexpertin. Dadurch könne jedoch ein „Verdrängungswettbewerb“ entstehen. Sie forderte: „Zur Gewährung der Versorgungssicherheit müssen langfristig wieder mehr Produktionsstätten aufgebaut werden, und zwar insbesondere in Europa.“

Sind importierte Medikamente schlechter geeignet?

Bei Antibiotika, die aus dem Ausland eingeführt werden, handelt es sich in der Regel um dieselben Wirkstoffe. Sie sind also genauso gut für die Versorgung geeignet. Allerdings kann es sich um andere Packungsgrößen oder Dosierungen handeln, und es ist nicht immer eine Packungsbeilage in deutscher Sprache vorhanden. Diese Probleme können auch bei anderen Medikamenten bestehen.

Daher ist es wichtig, sich bei Unsicherheiten in der Apotheke oder beim behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin über die richtige Anwendung beraten zu lassen.

Welche Entwicklung ist für die kommenden Monate zu erwarten?

Bundesgesundheitsminister Lauterbach hat sich im Kampf gegen die Arzneimittellieferengpässe in diesem Winter zuversichtlich gezeigt. „Wir werden deutlich besser dastehen“, versicherte er am Donnerstag im ARD-„Morgenmagazin“ mit Blick auf den vergangenen Winter. „Die Hersteller arbeiten 24/7, die Produktion wird deutlich größer sein.“ Man sei seit Monaten mit den Produzenten in Kontakt.

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Trotz Vorbehalten von Fachleuten verteidigte Lauterbach das ALBVVG. Es brauche noch ein bisschen Zeit, bis das Gesetz greift. „Der Hauptmechanismus ist ja, die Produktion zurück nach Deutschland zu bringen.“ Der Bau eines neuen Werkes dauere allerdings ein wenig.

Lauterbach appellierte zudem: „Bitte keine Hamsterkäufe.“ Eltern sollten jetzt nicht vorsichtshalber lauter Medikamente besorgen, obwohl noch niemand krank ist.

Wir haben diesen Artikel am 14. September 2023 zuletzt umfassend aktualisiert.

RND/mit Material der dpa


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