"Jeden Tag dachte ich nur ans Überleben.“ Ahmed Abou-Chaker wagt vor sechs Monaten einen unglaublich riskanten Schritt. Er fährt mit seiner Familie auf einem Flüchtlingsschiff nach Europa.
"Jeden Tag dachte ich nur ans Überleben.“ Ahmed Abou-Chaker wagt vor sechs Monaten einen unglaublich riskanten Schritt. Er fährt mit seiner Familie auf einem Flüchtlingsschiff nach Europa.
Heute lebt er in Hameln. Eine lebensgefährliche Reise brachte ihn dorthin. Ahmed musste fliehen, denn er ist Sunnit. Sunniten werden im Libanon von der Terrormiliz IS verfolgt und führen Bürgerkrieg gegen Schiiten. „Bei uns war Krieg, wir konnten dort nicht bleiben“, sagt Ahmed auf Englisch. Über sein Haus in Baalbek im Libanon schossen täglich Raketen hinweg. „Schiiten griffen mich an, stahlen mein Geld und verprügelten mich“, sagt Ahmed. Manchmal hielten sie ihn tagelang fest, schlugen ihn und bedrohten seine Familie. Er hat zwei Söhne. Omran und Abdul. Sie sind sieben und acht Jahre alt. Mit ihnen und seiner Frau zieht Ahmed von Haus zu Haus und Stadt zu Stadt, versteckt sich, nachdem eines Tages bewaffnete Männer Dutzende Löcher in seine Hauswand schossen. Er verkauft sein Haus und seinen Lebensmittelladen.
Dann ruft er jemanden an. Er hatte die Nummer eines Schmugglers bekommen. Eines Menschenschmugglers. Um nach Europa zu kommen, musste die Familie zuerst nach Ägypten, der Schleuser will sich mit Ahmed in Kairo treffen. Also steigen Ahmed, Ragida, Omran und Abdul in Beirut in ein Flugzeug. So beginnt ihre Flucht. Es ist August. Von Kairo aus müssen die Flüchtlinge zur Küste, zu den Booten. „Der Mann sagte, wir fahren am nächsten Tag los und sollen uns bereithalten“, sagt Ahmed. Der Schmuggler hatte gelogen. 21 Tage verbringen die Flüchtlinge in der Hauptstadt. Essen und Unterkunft müssen sie selbst zahlen. 2000 Dollar insgesamt. Ständig werden sie von der Polizei aufgegriffen. „Die mögen keine Flüchtlinge, wir haben gelogen und behauptet, wir wären Touristen aus Syrien. Hätten sie gewusst, dass wir Palästinenser sind, hätten wir ein Problem gehabt. Sie hassen Palästinenser.“ Für seine Familie kauft Ahmed in Kairo für 300 Dollar Schwimmwesten. „Aber als die Polizei uns kontrollierte, habe ich sie einem Mann neben mir gegeben. Denn wenn die Polizei sie gefunden hätte, hätten sie gewusst, dass wir fliehen wollen – und uns eingesperrt.“ Nach drei Wochen brechen sie mit den Schmugglern zur nächsten Station auf. Nach Alexandria. Die Schmuggler haben ihnen zuvor die Pässe abgenommen. Sie haben sie bis heute und werden sie nur gegen Geld wieder rausrücken. Von Alexandria soll es zu den Booten gehen. 2500 Dollar kostet die Überfahrt nach Italien – pro Person.
Wenn sie uns hören,
erschießen sie uns.“
„Der Schmuggler sagte uns, als wir in Alexandria ankamen, wir fahren gleich zum Meer. In einem Bus mit 70 Leuten fuhren wir stundenlang“, erzählt Ahmed. Es gibt drei Busse. Die Gardinen an den Fenstern sind zugezogen, die Flüchtlinge sollen ganz leise sein und sich verstecken. Ahmed flüstert, als er das erzählt …
Der erste Versuch, auf die Boote zu kommen, scheitert. Nachdem die Schmuggler sich an der Küste umgeschaut haben, erklären sie, dass dieser Tag kein guter sei, um mit dem Boot loszufahren. Also fahren die Busse wieder zurück. Ahmed und seine Familie brauchen eine neue Unterkunft. Das geht drei-, viermal so. Morgens in den Bus, stundenlang fahren und verstecken, dann wieder zurück.
Bis es eines Tages doch klappt. „Wir sollten um 8 Uhr bereit sein. Um 23 Uhr ging es dann los. Wir gingen zum Meer. Wir mussten alle still sein, dort waren Militärs. Wenn die uns hören, erschießen sie uns.“ 100 Meter weit gehen Hunderte ins offene Meer hinaus. Dort liegen kleine Motorboote. „Der Mann auf dem Boot bekam aber den Motor nicht an. Er zog etliche Male an dem Seil“, erzählt Ahmed. Der Lärm hätte jederzeit die Polizei auf den Plan rufen können, die am Ufer patrouilliert. „Das Wasser stand mir bis hier“ – Ahmed nimmt die Hand an sein Kinn. „Ich hatte meine Kinder auf den Schultern und die Wellen schlugen uns ins Gesicht.“ Ahmed schluckte viel Wasser, schrie den Bootsmann an, „hey, du Idiot, starte das Boot, wir werden sonst noch alle sterben“. Dann endlich springt der Motor an. 35 Flüchtlinge drängen sich jeweils in eines dieser kleinen Boote. Es fährt sie hinaus ins Dunkel, zu einem anderen Boot. Nach zwanzig Minuten müssen sie umsteigen. Während die Wellen gegen die Boote schlagen und sie umherwerfen, sollen sie auf das zweite Boot springen. Oder sie werden geworfen. „Zwei Menschen sind dabei gestorben.“ Einer war zwischen den Booten, als die Wellen sie zusammenschmetterten. „Ein anderer Mann in meinem Alter verletzte sich am Kopf und starb.“ Seine Leiche liegt während der gesamten Überfahrt vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder mit im Boot.
Einen Tag verbringt Ahmed mit seinen Söhnen und seiner Frau auf dem zweiten Boot. „Nach einem Tag gingen wir auf ein anderes Boot, nach einem weiteren Tag mussten wir auf das vierte Boot.“ Auf dem bleiben sie eine Woche. Ahmed sitzt bei den Männern in der ersten Ebene unter Deck. Ganz unten schlafen die Schmuggler, ein Kapitän, vier Crew-Mitglieder. Oben sind die Frauen und die Kinder. Den Männern ist es nicht gestattet, ihre Familien zu sehen. Ahmed erhascht einen Blick auf seine Kinder, wenn sie zur Toilette gehen.
Über 500 Menschen sind auf dem Boot. „Wir konnten nicht schlafen. Alle auf dem Boot weinten“, sagt Ahmed. Eingezwängt auf einer Bank, seekrank und mit viel Salzwasser im Bauch sitzt er tagelang fast regungslos. Er kann sich nicht bewegen, es ist zu eng – „wie im Gefängnis.“ Ständig schlagen Wellen gegen das überladene Schiff. Wasser schwappt unentwegt hinein. „Das machte uns große Sorgen.“ Vor Reiseantritt hatte Ahmed Medizin und Essen eingepackt. Die ägyptische Polizei nahm ihm alles weg. „Die Schmuggler haben sie bestochen und ihnen unsere Sachen gegeben.“ Also litten 500 Menschen Hunger. Den meisten hatten die Schmuggler erzählt, die Überfahrt von Ägypten nach Italien dauere nur zwanzig Minuten oder wenige Stunden. Sie hatten wieder gelogen.
„Jeder bekam ein Stück Kartoffel am Tag und etwa 20 Gramm Thunfisch“. Wem das nicht reicht, der nimmt es sich vom nächsten. „Jeder wollte jeden umbringen. Die Menschen bedrohten einander, um etwas zu essen zu bekommen“, sagt Ahmed. Ihn bedrohen sie nicht, weil er krank ist. Er übergibt sich tagelang, ihm ist schwindelig.
Vor Italiene schaltet der
Kapitän den Motor ab
Das Trinkwasser an Bord ist in Benzinkanister gefüllt. „Es schmeckte scheußlich, nach Benzin.“ Omran und Abdul wollen das Wasser nicht trinken. Also kauft Ahmed von einem anderen Flüchtling eine Flasche Wasser. 50 Euro zahlt er für einen halben Liter. Seine Frau und er trinken aus den Benzinkanistern. „Man denkt nur noch an den Tod. Wir starben jeden Tag“, sagt Ahmed. Vor der italienischen Küste schaltet der Kapitän den Motor ab. Dann funkt er um Hilfe. „Er und seine vier Helfer blieben im Boot, aber sie sagten uns, wir sollen erzählen, dass sie es verlassen hätten. Jedes Mal, wenn ein Schiff vorbeifuhr, winkten und riefen wir, aber keiner half uns. Drei Tage warteten wir auf das Rote Kreuz.“
Als sie endlich auf Lampedusa sind, fragt Ahmed seine Frau: „Spürst du das? Es schwankt.“ Ihm ist immer noch schwindelig. Weil sie Angst haben, in den Libanon abgeschoben zu werden, flüchten Ahmed und seine Familie aus Auffanglagern in Italien. Sie zahlen 1000 Euro für eine Busfahrt gen Norden und landen in Flensburg. In Deutschland zieht die Familie von einer Hilfsstation zur nächsten. Bis sie die Erlaubnis bekommen, in Hameln zu wohnen.