Nun möchte ich mit der von Dobrindt geforderten „konservativen Revolution“ gegen die angeblich alles beherrschenden Berliner Latte-macchiato-Schlürfer lieber nichts zu schaffen haben, aber in einer Hinsicht, liegt er nicht gar zu falsch. Schließlich hört, liest und spürt man’s häufiger: Es gibt Berlin, vielleicht noch Hamburg und zwei, drei andere Großstädte. Alles andere? Provinz, Diaspora, leere Landschaft, gar nix. Genau dieses „gar nix“ ist dann wohl unser aller Adresse.
Und doch bleibt Dobrindts Revolutionszug – da bin ich mir sicher – auf einem schlammigen Holzweg stecken. Denn wie, denkt er eigentlich, sind wir Provinzler so im Allgemeinen gestrickt? Im ersten Morgengrauen springen wir in unserer Gummistiefel und machen uns muffelig an unser tristes Tagwerk: Äcker furchen, Schweine mästen, Kätzchen ertränken. Des Abends entspannen wir am heimeligen Feuer des Scheiterhaufens, auf dem wir alles Fremde, Feministische oder gar Vegane zum Teufel schicken. So zumindest die Metropolenperspektive auf die weiten grünen Landstriche jenseits des Speckgürtels.
Zeit zum Aufrechnen also, liebe Großstädter. Die Stichworte liefert Prof. Gerhard Henkel, gerne als „Dorfpapst“ bezeichnet, doch auch viele Kleinstädter lassen sich bestimmt gern von seinen Aussagen eingemeinden.
„Das Sich-Auskennen und Handeln in vielen praktischen und natürlichen Bereichen“, schrieb er mal (nachlesbar auf bpb.de), sei ein „Kernbereich des dörflichen Lebens“. Jaha, da haben wir’s: Wir kennen uns aus! So ganz generell. Das hört man gern.
Stimmt schließlich auch. Wer seinen Samstagvormittag an einer durchschnittlichen Dorfstraße verbringt, sieht das schnell ein: In stetem Fluss ziehen lebenserfahrene Fahrer straßenerfahrener Kraftwagen samt Anhängern vorbei: Grünschnitt, Baumaterial, Sperrmüll – ein emsiges Weg- und Ranschaffen. Denn zu tun gibt’s immer: Zäune ziehen, Wände einreißen, Schuppen bauen, Bäume beschneiden, Böden verlegen. Und natürlich wissen wir, wie’s geht. Und wenn nicht, versuchen wir’s trotzdem. So weit weg ist die Hamelner Notaufnahme schließlich nicht. Und die Berliner? Haben nicht mal Anhänger.
Doch wir Provinzler sind nicht nur Malocher, sondern auch Gestalter, Entscheider, Macher auch ohne Arbeitshandschuhe. Noch einmal Prof. Henkel: „Dorfbewohner haben eine hohe Kompetenz, lokale Fragen und Probleme ehrenamtlich oder genossenschaftlich anzugehen und Verantwortung für das Gemeinwesen zu tragen.“ Klar, wie sollte es auch anders gehen? Sportverein, Politik, Bürgerbus, Dorfladen, Flüchtlingshilfe? Wenn wir’s nicht machen, macht’s keiner. Ist ja sonst keiner da. Also wohnt auf dem Land – mindestens – unter jedem zweiten Dach ein aktueller oder ehemaliger Vorsitzender, Kassierer, Cheftrainer oder sonst wie Ehrenamtlicher. In Hauptstädten sitzen die Regierungen – wir regieren selbst.
Und wie steht es dabei um die stockkonservativen Werte des Landvolkes, welche Herr Dobrindt wohl gerne mobilisieren würde? Nun: Sie siechen dahin. Der Kirchenchor? Singt Englisch. Der Torschütze des Dorfklubs? Heißt Hamid. Und das Landcafé? Verkauft Vollkornkuchen an die Wochenend-Flüchtlinge aus der Großstadt. Später gibt’s Jazz.
Wer das Glück hat, in dieser tief provinziellen Gemeinschaft von Bescheidwissern, Anpackern und Kuchenbäckern groß zu werden, kann dann später mal – eigentlich alles. Sogar Latte macchiato am Prenzlauer Berg schlürfen. Den gibt es übrigens in sehr leckerer Ausführung auch auf dem Land. Ich verrate aber nicht, wo. Denn schließlich schätzen wir Provinzler an der Provinz vor allem eins: Wir haben unheimlich gern unsere Ruhe.