Wahrheit oder Dichtung? Recherchen haben ergeben: Die geschilderte Tat hat sich tatsächlich so ereignet. Archivar Olaf Piontek vom Hamelner Stadtarchiv ist bei seinen Nachforschungen in den tagebuchähnlichen Aufzeichnungen des Johann Daniel Gottlieb Herr (geb. 1728, gest. 1765) fündig geworden. Der damalige Pastor primarius der Münsterkirche hielt in seiner Abhandlung mit dem Titel „Wohl und Wehe der Stadt Hameln während des Krieges von 1757 bis 1763“ folgendes fest: „d.20ten wurde vor dem neuen Thor auf den Wiesen ein Bauer erstochen von einem Bückeburgischen Stük Jungherr. Dieser kam nebst den Bückeburgischen adiutanten besoffen aus der Stadt, fiel die daselbst zum fahren beorderte und in Bereitschaft stehende Bauren an, und wolten ihnen die Pferde ausspannen, um nach ihren Quartieren zu reiten. Die Bauren wiedersetzten sich. Sie bekamen Schläge, erwiederten aber dieselbe mit hertzhaften Prügeln und schlugen den Stükiunker fast das Auge aus. Dieser stach einen Bauren durch. Deßen Cameraden nahmen den adiutanten Hut und Degen weg und eilten damit zur Stadt. Der Stükiunker und adiutant folgten sie bis unter das Thor, um die Leute wieder zu haben, und da wurden sie von der Wache am Neuen Thor arretiret. Der Bauer starb den 22ten und wurde den 23ten seciret. Zu Ende Monats Martii 1762 wurde der adjutant degradiret, cum infamia cassirt und auf 6 Jahr nach Hameln in die Karre condemniret. Der Stük Junker hat bis 1763 geseßen und ist endlich echarpirt.“
Damit ist bewiesen: Der Bauer ist tatsächlich von dem Junker getötet worden. Und auch die Verurteilung der beiden Soldaten ist belegt. Dennoch bleiben zwei wichtige Fragen unbeantwortet. Warum wurde der Adjutant härter bestraft als der eigentliche Täter? Der Stückjunker hat nicht einmal ein Jahr in Haft gesessen. Und: Ist ihm wirklich – wie Kollmann schreibt – nach kurzer Zeit die Flucht gelungen?
Der Jurist und Militärhistoriker Michael-Andreas Tänzer glaubt zu wissen, warum. Der Stückjunker war ein Artillerieoffizier von niedrigem Rang. Eigentlich war er noch kein richtiger Offizier, eher ein angehender. „Der Junker war ganz sicher minderjährig und stammte möglicherweise aus einer adeligen Familie. Beides dürfte sich auf das Strafmaß ausgewirkt haben, das zu damaliger Zeit ein Kriegsgericht gefällt hat“, sagt der Experte. „Es gab bereits so etwas wie ein Jugendstrafrecht.“ Möglicherweise wurde dem Jungen zugutegehalten, dass er mit dem Stich sein Leben verteidigen wollte. Immerhin war er bei der Schlägerei am Auge verletzt worden. Belegt ist nicht, dass der Täter wegen Mordes verurteilt wurde. Mit „echarpirt“, wie Magister Herr schrieb, ist nicht etwa eine Flucht aus dem Gefängnis gemeint. „Echarpirt“ bedeutet, dass ihm die Schärpe, also das äußere Zeichen eines Offiziers, abgenommen wurde. Der Adjutant, vermutlich ein Leutnant oder Oberleutnant, war als Vorgesetzter verantwortlich für den Junker. „Pferde zu stehlen, war eines Offiziers unwürdig“, erklärt Tänzer. „So etwas wurde in Offizierskreisen nicht geduldet. Eher hätte man in Kriegszeiten das Töten eines Bauern als Lappalie verstanden.“ Der Adjutant war dem Junker also ein schlechtes Vorbild. Das hat sich nach Meinung des Juristen und Militärhistorikers strafverschärfend ausgewirkt.
Genauer lässt sich das Urteil nicht nachvollziehen, da nach Angaben von Tänzer die „Prozessakten der Kriegsgerichte aus dem Siebenjährigen Krieg nicht erhalten“ sind.
Magister Herr berichtet, dass der getötete Bauer „seciret“ wurde. Das bedeutet: Die Leiche wurde obduziert. „In jener Zeit war es für Mediziner nicht einfach, legal an einen Toten für Forschungs- oder Ausbildungszwecke heranzukommen. Deshalb nutzte man jede öffentlich-rechtliche Gelegenheit, um eine Autopsie durchführen zu können“, erklärt Tänzer.
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