„Alle Jahre wieder“ ist mein Lieblingsweihnachtslied. Das hat weniger mit dem darin besungenen Jesuskind zu tun, aber viel mit dem Wort „Wieder“. Ich habe an Weihnachten nämlich immer sehr geschätzt, dass es so absolut berechenbar war. Traditionen und Rituale sind für mich der wahre Geist der Weihnacht. Aus Gründen, die ich an dieser Stelle wohl nicht explizit erwähnen muss, habe ich mich deshalb mit der Adventszeit 2020 ausgesprochen schwergetan. Lesen Sie selbst:
Sonntag, 29. November 2020: In Ermangelung der üblichen vorweihnachtlichen Termine gammele ich im Schlafanzug durch den Tag und gucke Horrorfilme. Als es dunkel wird (ich gieße gerade die Orchideen auf meinem Esstisch), fällt mein Blick durchs Fenster in den Nachbargarten. Direkt auf eine funkelnde Lichterkette. Von Unruhe erfasst schaue ich auf den Kalender. Tatsächlich! Der 1. Advent ist schon fast verstrichen - und meine Kartons mit der Weihnachtsdeko stehen noch auf dem Dachboden. Unberührt. Ich schäme mich ein bisschen. Für einen Ausbruch von Vorweihnachtsstimmung reicht es aber nicht. Ich beschließe, mich auf das Wesentliche zu beschränken und rücke die Phalaenopsis aus der Mitte an den Rand meines Blickfeldes.
Dienstag, 1. Dezember: Direkt nach dem Aufstehen nehme ich mit einem Schulterzucken zur Kenntnis, dass der Adventskalender nicht von alleine den Weg vom Supermarkt in mein Wohnzimmer gefunden hat. Ich tröste mich damit, dass er zwischen den Orchideen merkwürdig ausgesehen hätte. Ein weiterer Stichtag verstreicht tatenlos.
Mittwoch, 2. Dezember, bis Freitag, 4. Dezember: Mit jedem ausgefallenem Weihnachtsmarktbesuch und jedem ausgelassenem Glühwein wächst mein Unbehagen. Zum Ausgleich kaufe ich mehr Weihnachtsgeschenke als nötig - und verschenke die ersten davon noch am selben Tag.
Sonnabend, 5. Dezember: Ich muss erkennen, dass alle Bestechungsversuche gescheitert sind. Mein Nachwuchs bemängelt die immer noch fehlende Weihnachtsdeko. Ich verweise zunächst auf die (ganzjährig) im Esszimmer installierte Lichterkette, die doch auch sehr stimmungsvoll ist, und ernte Naserümpfen. Als die Kinder das Haus verlassen, hole ich missmutig den großen Weihnachtmann und Opas alten Nussknacker vom Dachboden und stelle beide auf ihre Stammplätze. Hinzu kommen ein paar kitschige Christbaumkugeln, die ich behelfsweise in die Orchideen hänge.
Sonntag, 6. Dezember: Vom Nikolaus erhalte ich einen zauberhaften Weihnachtsbaum aus Holz, der leider überhaupt nicht mit den Phalaenopsis harmoniert. Mir bleibt nun nichts anderes mehr übrig, als die restliche Deko im Haus zu verteilen und endlich den verregneten Adventskranz von der Terrasse ins Haus zu wuchten. Ich begehe den 2. Advent beim lauten Zischen durchnässter Kerzendochte.
Montag, 7. Dezember, bis Freitag, 11. Dezember: Mit jedem Gespräch im Familienkreis lichtet sich mein Feiertags-Terminkalender. Nein, bei Oma wird es in diesem Jahr kein Weihnachtsessen geben. Und ja, auch der Opa verzichtet auf den traditionellen Brunch-Besuch. Onkels, Tanten, Cousinen und Cousins sowie Neffen und Nichten 1. bis 3. Grades korrigieren ihre Gästelisten.
Sonnabend, 12. Dezember: Ich schrecke um halb acht mit der Erkenntnis aus dem Schlaf, dass ich meine Familie in diesem Jahr über die Feiertage selbst ernähren muss...
Sonntag, 13. Dezember: Beim Gedanken, den soeben abgeholten Tannenbaum erstmalig nicht an seinem angestammten Platz im Wohnzimmer aufzustellen, werde ich völlig unvermittelt von anarchistischer Freude am Chaos gepackt. Wenn schon anders, dann richtig! Ich vertausche Nussknacker und Weihnachtsmann und warte mit diebischem Vergnügen darauf, dass jemand den Fehler bemerkt.
Montag, 14. Dezember, bis Sonnabend, 19. Dezember: Die letzten Weihnachtsgeschenke trudeln ein. Unglaublich, aber wahr: Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich an Heiligabend nicht das Haus verlassen müssen. Gegen Ende der Woche wird mir bewusst, dass die Bestellfrist für Lieferungen vor Weihnachten nun abgelaufen ist. Im selben Moment weiß ich, dass ich jemanden vergessen habe. Leider wird mir erst am 24. gegen 11 Uhr einfallen, wer dieser Jemand ist.
Sonntag, 20. Dezember: Beim Entzünden der vierten Kerze auf dem gut durchgetrockneten Adventskranz beschleicht mich ein merkwürdig warmes Gefühl. Es dauert ein paar Minuten, bis ich begreife, dass es sich tatsächlich um einen ersten Anflug von Weihnachtsstimmung handelt. Hastig werfe ich eine Handvoll Nelken in meinen lauwarmen Früchtetee.
Montag, 21. Dezember, bis Mittwoch, 23. Dezember: Zur Festigung meiner weihnachtlichen Stimmungslage höre ich tapfer NDR 1. Nussknacker und Weihnachtsmann haben zu guter Letzt doch noch einmal ihre Plätze getauscht. Nur der Tannenbaum im Esszimmer erinnert mich noch daran, dass in diesem Jahr vieles anders sein wird. Einiges vielleicht sogar besser. Und falls nicht, wird spätestens nächstes Jahr alles wieder wie immer sein. Der Geist der Weihnacht ist eben doch ein zäher Hund.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Familien ein Frohes Fest!