Was tun, wenn ein Zugunglück passiert ist und ein 1800 Tonnen schwerer Güterzug auf abschüssiger Strecke ins Rollen kommt? Bislang mussten die Bremsen der einzelnen Waggons festgezogen werden. Das ist gefährlich, kostet viel Zeit. Ein heimischer Feuerwehrmann hat eine neue Methode entwickelt.
HAMELN-PYRMONT. Am späten Samstagabend um 23.44 Uhr wird die letzte rote S-Bahn der DB Regio den Bahnhof Hameln mit Ziel Steinheim verlassen. Exakt 36 Minuten später – so jedenfalls steht es im Fahrplan – wird es bunt: Dann fährt die erste blau-weiß-rote SBH des Eisenbahnverkehrsunternehmens Transdev Hannover in Hameln ein. SBH – das steht für S-Bahn Hannover. Die Kreisfeuerwehr hat sich bereits auf diesen Betreiberwechsel eingestellt. Denn: „S-Bahn ist nicht gleich S-Bahn“, sagt der Bahn-Experte und Feuerwehrmann Michael Niehus. „Jedes Fahrzeug ist anders, jede Baureihe hat ihre Besonderheiten.“ Mit der alten S-Bahn der DB Regio seien die Rettungsmannschaften vertraut gewesen, aber der neue Triebzug der Firma Stadler vom Typ „Flirt 3 XL“ habe die heimischen Feuerwehrleute vor neue Herausforderungen gestellt. „Wir hatten anfangs viele Fragen, mussten erst Antworten darauf finden“, erklärt Oberbrandmeister Niehus. Die Feuerwehr wolle „vor der Lage“ sein – soll heißen: „Wir wollen nicht erst im Notfall, wenn es um Leben und Tod geht, erfragen müssen, wie wir bei diesem Zug zum Beispiel von außen die Türen öffnen oder den Stromabnehmer absenken können. Im Ernstfall können Sekunden entscheidend sein“, weiß Niehus. Von Experten ließen sich interessierte Feuerwehrleute aus dem gesamten Kreisgebiet in die neue Technik einweisen. „Wir haben Tricks und Kniffe gelernt, die bei einem Bahnunfall sehr hilfreich sind – vor allem dann, wenn uns der Lokführer nicht zur Seite stehen kann.“
S-Bahn ist nicht gleich S-Bahn - wir wollen vorbereitet sein“
Wo ist bei diesem Fahrzeugtyp der Hauptschalter? Wie kann ich die Spannung der Oberleitung von der Technik des Zuges trennen? Und: Wo befindet sich der Batterie-Trennschalter? „Es ist elementar wichtig für uns, zu wissen, wo sich diese Schalter befinden“, sagt Lehrgangsleiter Michael Niehus. Selbst wenn der Stromabnehmer von der 15 000-Volt-Oberleitung getrennt sei, flössen immer noch 110 Volt Betriebsspannung durch den Zug. Für Feuerwehrleute mit einem technischen Grundverständnis seien diese Dinge keine böhmischen Dörfer. „Man muss eben nur wissen wie“, meint Michael Niehus und nennt ein Beispiel: „Bei der DB-S-Bahn gibt es eine Klappe. Die muss man nur aufziehen. Dann kann man die Tür manuell aufschieben. Die neue Transdev-Bahn hat so eine Klappe nicht. Um die Türen öffnen zu können, benötigt man einen Spezialschlüssel.“
Was, wenn die beiden Führerstände bei einer Kollision zerquetscht werden?
An zwei Tagen beschäftigten sich die Feuerwehrleute in ihrer Freizeit mit der neuen Technik. „Wir hatten das große Glück, dass wir auf der Bahnstrecke der Osthannoverschen Eisenbahn im Bahnhof Grohnde auch an der wohl modernsten Zweikraft-Güterzuglok üben durften. Das war Premiere für uns Feuerwehrleute.“ Die 126 Tonnen schwere Lokomotive der Havelländischen Eisenbahn AG ist eine Stadler Euro-Dual-Lok. Das bedeutet: Sie kann sowohl mit Strom als auch mit Dieselkraftstoff angetrieben werden. Mit einer Zweikraftlok werden Kieswaggons durchs Weserbergland gezogen. „Bei unseren technischen Übungen ging es vor allem um die Rettungsmöglichkeiten von eingeschlossenen Lokführern“, erklärt Niehus. Was, wenn die beiden Führerstände bei einer Kollision zerquetscht werden? „Falls noch die Möglichkeit besteht, flüchten Lokführer vor einem Aufprall in den Mittelgang des Maschinenraumes“, weiß Niehus. „Wir haben gelernt, wie wir schnell an den Eingeschlossenen herankommen können. Es waren zwei lehrreiche Tage. Am Ende haben wir dann noch ein Experiment durchgeführt, das für uns alle – sowohl für Eisenbahner als auch für Feuerwehrleute – absolutes Neuland war: Wir haben uns zunächst von den Eisenbahnern zeigen lassen, wie man einen Zug gegen Wegrollen sichert. Das geht normalerweise, indem man die Handbremsen an den einzelnen Güterwagen festzieht. Um eine zuverlässige und schnelle Alternativ- oder Ergänzungsmethode für den Fall der Fälle parat zu haben, habe ich errechnet, mit welcher größtmöglichen Hangabtriebskraft wir am steilsten Streckenabschnitt im Landkreis bei den schwersten dort fahrenden Güterzügen zu rechnen haben. Das sind 366 Kilonewton.“ In der Theorie habe er dann eine Idee entwickelt, wie die Feuerwehr diese enorme Kraft mit eigenen Mitteln sicher, möglichst einfach und damit schnell fixieren könne, erzählt Niehus.
Neue Sicherungsart funktioniert in der Praxis
Diese mögliche Lösung sei dann am Betriebsbahnhof Grohnde bei einem 1800 Tonnen schweren Kieszug in die Praxis umgesetzt worden. Lokführer Tobias Wess von der Havelländischen Eisenbahn und Mario Menzel, örtlicher Betriebsleiter der Osthannoverschen Eisenbahn, hätten das Vorhaben zuvor geprüft und dem Experiment zugestimmt. „Wir haben also langsam die Bremsen des auf der abschüssigen Strecke stehenden Zuges gelöst und beobachtet, ob die neue Sicherungsart in der Praxis funktioniert. Der anrollende Zug wurde – wie erwartet – von den an der Lok befestigten Rundschlingen, die wir mit den Schienen verbunden hatten, gehalten, sodass diese Vorgehensweise von allen Beteiligten als praktikable und schnell umsetzbare Erstmaßnahme für gut befunden wurde.“
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